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Missionar des Mitdenkens. RSB-Chefdirigent Vladimir Jurowski.

© Kai Bienert

Vladimir Jurowski dirigiert das RSB: Ein Chanson für Ophelia

In jeder Hinsicht überwältigend: Vladimir Jurowski und das Rundfunk-Sinfonieorchester führen moderne Shakespeare-Vertonungen auf.

Keiner macht derzeit in Berlin radikalere Klassikprogramme als Vladimir Jurowski. Am Sonntag kombiniert der neue Chef des Rundfunk-Sinfonieorchesters ausschließlich Werke des 20. und 21. Jahrhunderts. Nichts für die Freude am Wiedererkennungseffekt ist dabei, kein brillantes Solistenkonzert, keine Sinfonie, in die man sich verlieren könnte. Nein, Jurowski dirigiert vier kleinteilig gearbeitete Stücke, lauter Bühnenmusiken, die in der Philharmonie aber ohne die Szene auskommen müssen. Zudem hat der Abend deutliche Überlänge. Hier fordert ein leidenschaftlicher Missionar des konzentrierten Mitdenkens Musiker wie Publikum aufs Äußerste.

Und es ist zweifellos beeindruckend, mit welcher Selbstverständlichkeit Vladimir Jurowski Alban Bergs „Lulu“-Suite dirigiert. Weil ihm die Ästhetik der Wiener Moderne aus langer praktischer Beschäftigung völlig natürlich erscheint, vermag er mit dem RSB einen dichten, intensiven Klang entstehen zu lassen, der vor allem in den Streichern wie von innen heraus leuchtet.

An Lässigkeit kaum zu toppen

Nur zu verständlich ist auch, dass sich Jurowski für Brett Deans „Hamlet“-Oper starkmacht, deren Uraufführung er im vergangenen Sommer beim englischen Glyndebourne Festival geleitet hat. Zumal der 1961 geborene Australier in der kommenden Saison composer in residence beim RSB sein wird. Mit der Koloratursopranistin Allison Bell und dem Tenor David Butt Philip stehen ihm dabei versierte Interpreten für die sinnlich-geräuschhafte, atmosphärisch eindringliche Opernauskopplung „From Melodious Lay“ zur Verfügung.

Die große Entdeckung des Abends aber ist eine andere „Hamlet“-Partitur, nämlich jene, die der 26-jährige Dmitri Schostakowitsch 1932 für eine Moskauer Shakespeare-Inszenierung geschrieben hat. Oder besser gesagt: aufs Notenpapier geworfen. Denn diese Musik ist an Lässigkeit kaum zu toppen. Schostakowitschs damaligen Regisseur Nicolai Akimow muss man sich als eine Art Frank-Castorf-Vorgänger vorstellen, und entsprechen wüst gebärdet sich auch Schostakowitsch, wildert in den Niederungen der Populären, schreibt grotesk überschminkte Märsche, Walzer, Can-Cans, Schnellpolkas und einen Spelunken-Chanson für Ophelia. Das hat durchweg virtuosen Witz, denn jede der 39 Miniaturen funkelt auf ihre ganz individuelle Art.

Enorme Sprengkraft und emotionale Tiefe

Zeitgleich arbeitete Schostakowitsch an seinem Musiktheater-Meisterwerk „Lady Macbeth von Mzensk“, und wenn Vladimir Jurowski der grellbunten „Hamlet“-Musik die fünf Orchesterzwischenspiele aus der Oper gegenüberstellt, wird das Genie des Russen erst vollständig deutlich: Die Stilmittel sind dieselben, aber Schostakowitsch nutzt sie für die ernsten Stoffe ganz anders, radikaler, unerbittlicher, verleiht ihnen enorme Sprengkraft und emotionale Tiefe. Wie der Dirigent das mit dem RSB herausarbeitet, von der „Allegro con brio“-Maschinenmusik über die brennende Kälte der Passacaglia bis hin zur schwermetallischen Parade im Finale, das ist in jeder Hinsicht überwältigend.

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