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Kultur: Ein Mann für alle

Liebestourismus am Lido: Gefühlshunger und Machtspiele beim Filmfest Venedig

Seit sechs Jahren kommt Ellen (Charlotte Rampling) jeden Sommer für vier Wochen in das kleine Strandhotel auf Haiti, und sie hat jede Menge Spaß dabei. In Boston, wo sie heiratswütige Romanistinnen unterrichtet, gibt’s keine Männer für Frauen über 40. Aber hier ist zum Beispiel Legba (Ménothy Cesar), der junge Schwarze, dem frau immer ein bisschen Geld zustecken kann nach dem Sex. Nicht dass Ellen ihn liebt, Gott bewahre, aber mögen tut sie ihn schon. Und wenn sie ihre Kamera zückt, dann posiert er nackt in ihrem Bambushäuschen unter Palmen.

Alles in bester Ordnung in Laurent Cantets „Vers le sud“, wenn da Brenda (Karen Young) nicht wäre: Brenda ist verrückt nach Legba, ja, sie liebt ihn, seit er ihr, da war sie 45, den ersten Orgasmus ihres Lebens geschenkt hat. Schwerer Irrtum, diese Liebe. Meint zumindest Ellen: „Legba gehört allen.“ Eines Nachts aber ist Schluss mit der Stutenbissigkeit auf Sparflamme. Tragisch stellt sich heraus, dass Legba noch ein ganz anderes Leben geführt hat. Das führt zu einem – sehr behandelbaren – Knacks in Ellens Leben. Und die romantische Brenda wird plötzlich frei: fürs pure Vergnügen.

„Vers le sud“ ist vielleicht kein Meisterwerk des Franzosen, der mit „Ressources humaines“ (1999) und vor allem „L’emploi du temps“ (2001) zwei nachhaltige Studien über einsame Menschen in der defekten modernen Gesellschaft vorgelegt hat. Aber aus dem Wettbewerb am Lido ragt diese klare, ökonomische und wirkungsvolle Arbeit locker heraus. Cantet inszeniert das Milieu des „Liebestourismus“, wie er es nennt, vor allem als subtiles Machtspiel zwischen Frauen. Seine Heldinnen – Rampling ist ein faszinierend selbstmitleidloses Biest, Young gibt beunruhigend präzis eine völlig Lebensverlorene – denunziert er dabei ebenso wenig, wie er deren mittellose Gigolos zu Opfern von ausbeuterisch dahinwelkenden Körpern macht. Er zeigt einfach: gerade Gefühle, schiefe Hoffnungen, tragische Missverständnisse von Statistinnen ihrer eigenen Utopie.

Diese Utopie heißt, im unmöglichsten Fall, Liebe. Und Liebe, selbst die unmöglichste, wächst überall. Emmanuelle Bercot erzählt in „Backstage“ von einem Dutzendschicksal, das man auch unter manchem Sonnenschirm vorm Palazzo del Cinema vermuten darf: Stundenlang harren dort junge Mädchen mit ihren Digicams und Autogrammblock aus, um einmal im Leben Orlando Bloom oder Jake Gyllenhaal zu sehen. Die 16-jährige Lucie (Isild Le Besco) ist Fan der Sängerin Lauren (Emmanuelle Seigner) – und für ein paar Luxushoteltage gerät sie plötzlich, wild und schwärmerisch, verliebt und verzweifelt, in deren Leben hinein. Auch „Backstage“ ist ein Machtspiel, bei dem die Verhältnisse – nur kurz – ins Wanken geraten; als Thema vielleicht ein bisschen zu klein, um einen langen Spielfilm zu tragen, aber mit Verve inszeniert und großartig interpretiert.

Im übrigen taumelt das Festival, das schlechteste seit Jahren, seinem Ende entgegen – mit ehrgeizigen Zeitporträts, die ihre Sorgfalt ganz auf Schauwerte verwenden und die Akteure meist im Drehbuch-Nebel stochern lassen. In Alexej Germans „Garpastum“ spielen junge Russen, in erlesen monochromen Sepiatönen des Ersten Weltkriegs, viertelstundenlang im Matsch Fußball; und Stanley Kwan nimmt sich, in „Everlasting Regret“, im Zeitraffer 40 Jahre chinesischer Geschichte vor, ohne sich wirklich für seine Figuren zu interessieren: ein Bilderbuch für den Binnenmarkt allenfalls, nicht für ein Weltfestival.

Da darf Italien nicht fehlen. Cristina Comencini („La bestia nel cuore“) präsentiert im Wettbewerb eine weitere von RAI-Cinema produzierte Soap, die diesmal mit dem Thema Kindesmissbrauch Missbrauch treibt, mal mit elegischem Tremolo, mal derb humoristisch. Den italienischen Kritikern hat’s gefallen.

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