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Kultur: Ein Rausch bringt die Erlösung

„Die alltägliche Physik des Unglücks“, das umjubelte Romandebüt der jungen New Yorker Autorin Marisha Pessl

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Am Anfang stand ein Wagnis. Als der S. Fischer Verlag sich die deutschen Übersetzungsrechte an dem Romandebüt der damals 27-jährigen New Yorker Autorin Marisha Pessl sicherte, bezahlte er für ein Buch, das zu diesem Zeitpunkt erst zur Hälfte fertig war. 300 Seiten eines einigermaßen verwickelten Textes, bei dem es erheblich auf eine gelungene Auflösung ankommen würde. Doch die Rechnung ging auf. Die Kritiken überschlugen sich, der Roman wurde zum Bestseller und schließlich – höchste Ehre – von der „New York Times“ unter die fünf besten belletristischen Werke des Jahres 2006 gewählt. Die Lizenzrechte würden heute gut das Fünffache kosten.

Tatsächlich ist das Buch, das auf Deutsch jetzt unter dem Titel „Die alltägliche Physik des Unglücks“ vorliegt, ein allein schon in seiner Fülle beeindruckendes Debüt. Aber man tut dennoch gut daran, den hohen Ton des Schwärmens, der es seit seinem Erscheinen begleitet, zu relativieren. Besonders, wenn es ans Vergleichen geht: Im Falle Pessls tauchte irgendwann der Name Nabokov auf. Das kann nur enttäuschen, selbst wenn im Buch eine Kollektion aufgespießter Falter vorkommt. Auch die Konstellation „Älterer Mann und junges Mädchen ziehen heimatlos durch die Staaten“ löste bei Rezensenten einen Lolita-Reflex aus. Sex aber spielt in dieser echten Vater-Tochter-Beziehung keine Rolle. Dafür gibt es die familienintern „Junikäfer“ genannten Kurzfreundinnen des Vaters.

Ein skurriles Duo geben der smarte Politikprofessor Gareth und die fast erwachsene Blue van Meer allerdings ab. Wie auf der Flucht vor dem Stillstand wechseln die beiden seit dem frühen Unfalltod von Blues Mutter Semester für Semester den Wohnort. Scheinbar ohne Ehrgeiz und Ziel lehrt der ehemalige Ivy-LeagueAspirant Gareth an drittklassigen Provinzuniversitäten die Theorie der linken Revolution; während seine intellektuell frühreife Tochter beinahe den Anschluss ans Leben verpasst, weil sie die Welt um sich herum durch Bücher zu interpretieren versucht. Andere Freunde hat sie nicht.

Als der Roman einsetzt, sind die van Meers gerade an dem fiktiven Ort namens Stockton in North Carolina eingetroffen, wo Blue an einer renommierten Privatschule ihren Eintritt nach Harvard vorbereiten soll. So beginnt das letzte gemeinsame Jahr von Vater und Tochter, und natürlich kann nichts bleiben, wie es war. Blue gerät unter den unguten Einfluss einiger amüsierwütiger Jugendlicher. Sie vernachlässigt ihre Bildung, schlägt sich die Nächte um die Ohren und erlebt den einen oder anderen veritablen Rausch. Verglichen mit ihrem früheren Leben ist das Sodom und Gomorrha, der Leser atmet jedoch erleichtert auf. Die Vielzahl der Parenthesen, Einschübe und Satzschleifen sinkt merklich, und als die zierliche Nervensäge auf dem Strebertrip unversehens in einen (Selbst-)Mord hineingezogen wird, gewinnt die Coming-of-age-Story plötzlich erheblich an Tempo und Spannung.

Im Zentrum stehen eine filigran schöne Lehrerin Blues mit undurchsichtiger Vergangenheit sowie eine Gruppe smarter Eliteschüler, die sich selbst die „Bluebloods“ nennen. Pessls Heldin wird in diesen Zirkel aufgenommen und beginnt sich peu à peu von ihrem puppenhaften Dasein als Vatertochter zu emanzipieren. Die Ikone des charmanten, gut aussehenden, allwissenden Professors bekommt erste Risse. Unter normalen Umständen hieße das: Sie wird erwachsen. In einer Konstellation aber, die, wie sich herausstellt, auf Lügen und Geheimnis beruht, wird der Bildungsroman unversehens zum Drama. Verlust ist alles, was Blue am Ende bleibt.

Und natürlich die Literatur. Sie spielt die heimliche Hauptrolle in diesem Roman. Schon das Inhaltsverzeichnis, ausgewiesen als „Lektüreliste“, verortet die Biografie der Protagonistin zwischen den großen Werken der Weltliteratur. „Othello“ heißt gleich das erste Kapitel, es folgen James Joyce „Ein Porträt des Künstlers als junger Mann“, Emily Brontë „Die Sturmhöhe“ und andere Größen des Kanons. Aber auch innerhalb der Kapitel zitiert Ich-Erzählerin Blue immer wieder aus literarischen und wissenschaftlichen Werken, ganz so, als müsse sie sich in ihren Beobachtungen und Thesen bei Autoritäten absichern, die etwas vom Leben verstehen.

Marisha Pessl selbst hat eine solche Vergewisserung nicht nötig. Sie spielt im Gegenteil damit, in dem sie einen Gutteil der Zitate und Quellen einfach erfindet. Damit beweist die 29-jährige Schriftstellerin nicht nur ihre Souveränität, sondern auch jene Portion an Humor, die ein Zweipfünder wie „Die alltägliche Physik des Unglücks“ notwendig braucht. Denn einen geraden trockenen Satz gibt es bei Marisha Pessl nicht. Arabesken aus Gedankenschleifen und Metaphern zieren ihre Seiten und muten auf ebenso überraschende Weise altmodisch an wie die Tatsache, dass weder das Internet noch andere neue Medien für diese Gegenwartsgeschichte eine besondere Rolle spielen. Bücher, nicht Myspace lautet die Losung.

Marisha Pessl: Die alltägliche Physik des Unglücks. Aus dem Amerikan. von Adelheid Zöfel. 601 S., 19,90 €. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. Marisha Pessl liest heute Abend, 20 Uhr, im Oxymoron.

Silja Ukena

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