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Kultur: Ein Schlafwandler aus dem Eis

POP

Was für ein Auftritt! Als der schmächtige Georg Holm im gleißenden Scheinwerferlicht erschöpft in sich zusammensank und die acht anderen Schlafwandler des isländischen Pop-Phänomens Sigur Rós aus ihrem Wachkoma ins Diesseits zurückkehrten, da riss es die Leute in der Berliner Arena schlichtweg von den Stühlen. Und das Tosen und Pochen, das sie dort über anderthalb Stunden gebannt hatte, der laute Puls dieser unerhörten, ganz und gar neuen Musik, der in jedem schlug, der sie erlebte, all das löste sich in aufbrandendem Jubel, in nichts weniger als Glück. Sigur Rós kamen einmal zurück auf die Bühne, um eine Zugabe zu geben, und noch zweimal, um sich Arm in Arm tief zu verbeugen.

Ein Kollektiv, das sich musizierend in einen Körper aus Klang verwandelt, dessen Gliedmaßen, ob Cello, Bass oder Elektronik, wie am Schnürchen laufen. Eine beseelte Marionette, die weiß, was sie tut. Sigur Rós malen tragische Landschaften an einen luftigen Himmel. Im nächsten Augenblick tönen sie erdig, ja mythisch. In London haben sie einmal die Göttersage „Odin’s Raven Magic" vertont. Ihr neues Album hat den kryptischen Titel „()". Jede Spekulation darüber, was nun zwischen den Klammern stehen könnte, ist so müßig wie der Versuch, die Musik von Sigur Rós auf einen Nenner zu bringen.

Wie schaffen sie es, in tiefe, bedeutungsschwere Klangtiefen vorzustoßen, ohne in Pathos zu schwelgen? Am Drama ihrer Stücke nicht zu verzweifeln? Warum versteht sie die halbe Welt und kauft ihre Platten, obwohl Sigur Rós entweder isländisch oder gar nicht singen? Diese Band, die ihre ferne, abweisende Insel-Heimat mit den ähnlich sonderbaren Múm neu auf die Pop-Landkarte gerückt haben, Jahre nach dem Rätselwesen Björk, gibt ihr Rätsel nicht preis. Nur wer sich darauf einlässt, begreift. Vielleicht ist die Sache mit Sigur Rós also doch sehr einfach.

Tobias Rüther

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