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Einöden der Einsamkeit: Norbert Elias über das Sterben
Didier Eribon hat einen Essay des berühmten Soziologen Norbert Elias ausgegraben und erklärt sich damit das Siechtum seiner eigenen Mutter.
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Auch der Tod hat eine Geschichte – aber welche? In seiner Schrift „Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen“ korrigiert der Soziologe Norbert Elias recht frontal den französischen Historiker Philippe Ariès, der in seiner berühmten „Geschichte des Todes“ behauptet, dass der Tod in der Vormoderne ein ‚gezähmter‘ gewesen sei.
Umgeben von Familie und Freunden habe der Sterbende dem Tod gefasst ins Auge gesehen, Sterben sei als sozialer Prozess verlaufen. Falsch, so Elias, Ariès habe nicht verstanden, dass seine Quellen – Epen, Ritterromane und Ähnliches – Idealisierungen darstellten, keinesfalls ein reales Geschehen.
Demgegenüber sieht Elias das Ende des Lebens eingebunden in das Entwicklungsmodell, das er in „Über den Prozess der Zivilisation“ (1978) als kontinuierliche Einhegung vitaler Lebensäußerungen beschrieben hatte: So werde auch der Tod „hinter die Kulissen des Gesellschaftslebens verlegt. Für die Sterbenden selbst bedeutet dies, dass auch sie in höherem Maße hinter die Kulissen verlagert, also isoliert werden.“
Alte, Gebrechliche und Sterbende würden heutzutage aus der Gesellschaft exkludiert und in eigens für sie geschaffene Institutionen – die Alten- und Pflegeheime – verfrachtet: „Noch nie starben Menschen so geräuschlos und hygienisch wie heute in diesen entwickelteren Gesellschaften und noch nie unter sozialen Bedingungen, die in so hohem Maße die Einsamkeit befördern.“
„Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen“ erschien erstmals 1982. Dass der Text nun eine Neuauflage erfährt, verdankt sich dem französischen Soziologen Didier Eribon, der sich in einem krisenhaften Moment seines Lebens – dem Einzug seiner Mutter ins Pflegeheim – an diesen Text erinnerte, zu dem er nun auch das Nachwort beisteuert.
Bewältigungsstrategien eines Wissenschaftlers
In „Eine Arbeiterin“ (2024), der autosoziobiografischen Lebensgeschichte seiner Mutter, schildert Eribon seine Erschütterung angesichts dieses Schritts, gegen den sich seine Mutter lange gesträubt und zu dem er sie gedrängt hatte: „Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Ich war verwirrt und traurig. Und ich sagte mir, dass ich ,Das Alter’ von Simone de Beauvoir und ,Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen’ von Norbert Elias noch einmal lesen sollte, um die Situation besser zu verstehen und besser darauf reagieren zu können.“ Bewältigungsstrategie eines Wissenschaftlers oder psychologischer Abwehrmechanismus der Intellektualisierung: Ist diese Situation schwer zu verstehen oder schwer zu ertragen?
Denn genau darum geht es Elias zufolge: Zwar sei – siehe die Gladiatorenkämpfe im alten Rom – zivilisationsgeschichtlich die Fähigkeit zur mitmenschlichen Identifikation gestiegen, dies gelte aber nicht für sterbende Menschen. Gedanken an Gebrechlichkeit, Hilfsbedürftigkeit und Sterblichkeit werden abgewehrt, solange es geht. Alt sind immer die anderen – bis einen der eigene Verfall doch einholt. Dies war im Barock noch anders: Der englische Dichter Andrew Marvell etwa schrieb seiner Angebeteten scherzhaft, da sie sich seinen Wünschen entzöge, würden sich bald die Würmer im Grab an ihrer Jungfräulichkeit delektieren.
Verborgenheit oder Sichtbarkeit des Todes?
Gut lesbar und pointiert diskutiert Elias längere Lebenszeiten, verbesserte Hygienebedingungen oder die mit dem staatlichen Gewaltmonopol einhergehende soziale Pazifizierung, die das Verhältnis zu Alter und Tod transformiert haben.
Zu fragen bleibt: Welche Zivilisationsschübe oder -schübchen haben stattgefunden, seit der Text 1982 erstmals erschien? Findet der Tod weiter im Verborgenen statt – und wie verhält sich das zur „neuen Sichtbarkeit des Todes“ (Thomas Macho), die nach der Jahrtausendwende konstatiert wurde und von der die großen, medial inszenierten Trauerfeiern um Idole aller Art künden? Hat die Hospizbewegung nichts an der Vereinsamung der Sterbenden geändert?
1982 schrieb Elias: „Es wäre nicht uninteressant, das soziale Niveau der Angst vor dem Sterben in unseren Tagen im Hinblick auf Umweltverschmutzung und Atomwaffen mit dem entsprechenden Niveau der Angst auf früheren Zivilisationsstufen bei geringerer innerer Pazifizierung der Staaten und geringerer Kontrolle epidemischer und anderer Krankheiten zu vergleichen.“ Wie steht es in unseren Tagen um diese Angst, wenn Klimakatastrophe, Artensterben, Kriege, Pandemien und die innere Pazifizierung der Staaten zu erodieren drohen?
Da wir sterblich sind, ist Elias‘ Text nicht nur historischer, sondern auch fundamentaler Natur. Sein unbestechlicher Blick in die „Einöden der Einsamkeit“ der Alten- und Pflegeheime wirft die drängende Frage auf, wie wir das Ende des Lebens gestalten wollen. Für Elias jedenfalls ist das Leben des Einzelnen nur dann mit Sinn erfüllt, solange es mit dem Leben anderer verbunden ist – für Eribon eine Einladung zur intergenerationalen Solidarität. Die Alternative hat er schmerzlich erfahren: „Man weiß, dass man irgendwann selbst so ein Zimmer bewohnen wird, in einem ähnlichen Altersheim.“
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