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Kultur: Engel auf Rädern

Hans Neuenfels und Lothar Zagrosek erneuern Mozarts „Idomeneo“ an der Deutschen Oper Berlin

Weniger Schluss war nie. Der letzte Akkord des letzten Chores („Scenda Amor“), der das Glück der Liebe und die Gnade der Götter besiegeln soll, er verhungert auf der Stelle, verdorrt, erstickt hier und jetzt an der Weite und Leere, der Offenheit des Raumes. Ein Abbrechen, ein Aufhören. Abrupt und rüde. Das Vakuum aber, das so erzeugt wird (und das Orchester der Deutschen Oper Berlin unter Lothar Zagrosek entsagt hier tatsächlich jedwedem Ritardando, hält mutig gegen die harmonischen Schlusskräfte dieses „Staffagechors“), es füllt sich nicht etwa von Neuem mit Mozart-Musik, mit jenem Ballett KV 367 nämlich, welches dafür vorgesehen ist und in artiger französischer Manier die Klangkulisse für die Krönung Idamantes zum neuen Kreterkönig liefert. Nein, dieses Vakuum bleibt stumm und wagt stattdessen – was in einer opera seria gattungsästhetisch durchaus angebracht ist – die Pantomime, den Gestus.

Blutbesudelt schleift Idomeneo, der Vater Idamantes, nun ein Bündel in die Bühnenmitte und drapiert vier abgeschlagene Häupter auf vier Stühle: Die Häupter der drei „Religionsvertreter“ Gottes auf Erden – Jesus, Allah und Buddha, die soeben noch über die Menschheit zu Gericht saßen – nebst Poseidon/Neptun, welcher für das Schicksal Idomeneos mythologisch verantwortlich ist. Die Götter sind tot, sagt dieses Arrangement, und: Es lebe der Mensch!

Freiheit, Gleichheit, Glück

Der endgültige Sieg der Aufklärung also über jeden barocken Theaterzauber, alle Märchen und Mythen? Das zynische Grinsen des 21. Jahrhunderts angesichts eines vorbürgerlichen Befreiungsschlages, einer Emanzipation, die der Menschheit in den nachfolgenden Jahrhunderten so viel Verbrechen und Verderben wie nie bescheren wird? Und was, bitteschön, ist denn nun human im heutigen Blick auf Mozarts dramma per musica „Idomeneo“ von 1781: der Glaube an die „Götter“ und der historische Zweifel an der Selbstbestimmung, der Selbstgerechtigkeit des Individuums – oder der Zweifel an eben jenen „Göttern“ und der idealistische Glaube an des Menschen Menschlichkeit?

Wenn Neuenfels seinen Idomeneo am Ende dieses Endes in ein irres, ungebärdiges Lachen ausbrechen lässt (wie Kundry, die Christus einst am Kreuz verlachte!), dann ist darin sozusagen alles, „das Ganze“ aufgehoben: die Schuld, das Wissen, das Leid, das Heil, Musik, Theater – und die Utopie, dass es eines fernen Tages doch ein wenig besser bestellt sein könnte um Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und um unser Glück.

Das Premierenpublikum der Deutschen Oper indes weiß mit dieser Lesart nicht sonderlich viel anzufangen: Mürrische Buhs, wenige halbherzige Bravi, und schon trotten Hans Neuenfels und sein Ausstatter Reinhard von der Thannen wieder von dannen. Einerseits ist diese Reaktion wohl verständlich. Denn so klug sich das Konzept auch liest, so stilsicher das Regieteam den Kunstcharakter dieser hoch experimentellen Seria achtet und wahrt (Attila Csampai hat die Verflüssigung der Formen und des Regelwerks in dieser Partitur einmal als „Laboratorium der Mozartschen Oper“ schlechthin bezeichnet), so wenig Sinn und Zusammenhang stiften die typisch Neuenfels’schen Symbolismen und Surrealismen auf den ersten Blick.

Und so wenig spannendes Theater fällt dabei ab: Ob die Opfer des Krieges – torkelnde Trojaner in Ganzkörpermullbinden – nun das Tableau der kretischen Hofschranzen stören, die ihrerseits in bonbonfarbenem Neopren aufwarten, oder ob das Meeresungeheuer als rostiges Kanonenrohr senkrecht ins Geschehen niederstößt; ob zu Elektras bitterer Abschieds-Arie im zweiten Akt drei allerliebste Kinderlein die Szene säumen, zwei bocksfüßige Faune durch die Oper springen, als Boten aus dem mythischen Jenseits und Helfershelfer Poseidons, oder ob das Orakel zum lieto fine ganz einfach aus einem riesigen Lautsprecher dröhnt. Und auch auf Neuenfels’ geliebte Schrifttafeln muss man nicht lange warten: „Den verfluchten Töchtern und Söhnen von ihren verdammten Vätern“, besagt die erste gleich zu Ilias Auftrittsarie, während die andere es mit Sophokles hält („Ungeheuer ist viel, doch nichts ist ungeheurer als der Mensch“).

Und wie Erlösung geht, das erfahren wir an diesem Abend auch. Dann kommt nämlich ein milde lächelnder Engel des Wegs (mit dem Fahrrad wohlgemerkt!) und hebt die Toten, die Geschundenen und Gedemütigten wieder auf. So einfach ist das. Und so naiv-tiefernst-verrückt. Mozarts viel beschworene dramatische „Diskontinuität“, die zukunftsweisende Gebrochenheit seiner Charaktere beim Wort genommen?

Andererseits aber gelingt es Hans Neuenfels und Reinhard von der Thannen durch diese virtuosen stilistischen Unschärferelationen auch, dem Stück treu zu bleiben. Der Mensch als des Menschen Helfer nämlich, der mündige Bürger, wie er einem bei Mozart später begegnet, von den Da Ponte-Opern bis zur „Zauberflöte“, er befindet sich hier gewissermaßen in status nascendi. Der Vater, der den Sohn um seiner selbst willen geopfert hätte: Neuenfels zeigt die Ingredienzien dieses Vorgangs, er erinnert mit Mozart an Gluck, ja an Händel – und überspringt so alle Gefühligkeiten der „Idomeneo“-Rezeption, bringt uns die Geschichte durch ihre Altertümlichkeiten, ihre harsche Fremdheit nahe.

Mozarts Gegen-Hamlet

Dass dieser Premiere dennoch eine enorme Mattigkeit und Müdigkeit innewohnt, liegt am Musikalischen. So sehr Lothar Zagrosek im Graben auch ackert und werkelt, an einzelnen Akzenten feilt und die Artikulation immer wieder zuspitzt: Der Ton bleibt seltsam flach, die Musik verabschiedet sich früh ins Unverbindliche, Ungestalte. Eine Frage, nicht zuletzt, der kleinen Orchesterbesetzung im allzu großen Haus?

Mit mehr Mannen an den Pulten wiederum wäre von den Sängern – Charles Workman als interessant timbrierter, aber steifer Idomeneo, Francesca Provvisionato als Idamante, Michaela Kaune als bekümmerte Ilia, Krassimira Stoyanova als heftig chargierende Elektra, Burkhard Ulrich als Arbace – gewiss noch viel weniger zu hören gewesen. Eine Enttäuschung. Idomeneo sei „Mozarts Gegen-Hamlet“, schreibt Neuenfels im Programmheft, einer, der „nicht Opfer wird, sondern Täter“. Packen wir’s an.

Christine Lemke-Matwey

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