zum Hauptinhalt
Raumplastisch. In Norbert Krickes Skulptur „Schwarz-Rot“ von 1955 dehnen sich ineinander verschlungene Stahlstäbe von einem Zentrum nach außen aus.

© Aurel Scheibler, Berlin

Ernst Wilhelm Nay und Norbert Kricke: Aus der Kurve

Die Galerie Aurel Scheibler präsentiert Zeichnungen von Ernst Wilhelm Nay. Und entdeckt Norbert Krickes Skulpturen wieder.

„Angst scheint seine Triebkraft zu sein, sie sitzt tief und überall bei ihm. Er spielt den Messias, er will uns bekehren Jesu-Kitsch Heilandsmanier steigert sich ins Unerträgliche“, echauffierte sich 1968 in einem Text Norbert Kricke über seinen Düsseldorfer Künstler- und Akademiekollegen Joseph Beuys. „Er kommt vom linken Niederrhein, der auch seine geistige Heimat geblieben ist. Kunst bringt uns Neues, Beuys bringt Altes. Nicht ein Phänomen unseres Jahrhunderts hat er in Form gebracht.“

Fünfzig Jahre später ist es gleichwohl Beuys, dem wir als wichtigstem deutschen Künstler der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts huldigen. Beuys hat mit seiner Sozialen Plastik den Kunstbegriff neu definiert – Norbert Kricke hat derweil die „Große Mannesmann“ vor das Mannesmann-Hochhaus am Düsseldorfer Rheinufer gestellt: Ein Bündel dynamisch gewundener Stahldrähte gibt das Signal zum Aufbruch – in die Profitmaximierung des Konzerns?

Günther Grass spottete über Kricke

Es ist aus heutiger Sicht leicht nachvollziehbar, dass und warum der Zeitgeist von ’68 und danach nicht mit Norbert Kricke war. Noch 2006 spottete Günter Grass, der sich als Student an der Düsseldorfer Kunstakademie mit Norbert Kricke das (Akt-)Modell hatte teilen müssen, in seiner – aus anderen Gründen umstrittenen – Autobiografie über Kricke, weil der „lebendige nackte Mädchen in nackte Mädchen aus Gips verwandelte, bis er, nur wenige Jahre später, von seinen Nackedeis genug hatte und fortan mit dekorativ gebogenen Drahtskulpturen“ reüssierte. Wer austeilt wie Kricke gegen Beuys, der muss eben auch einstecken können.

Es ist dies nun eine Zeit, in der es immer wieder lohnend erscheint, vergessene, verkannte, verachtete, unterbewertete Künstler wieder oder neu zu entdecken. Ganz so einfach ist das aber nicht. Als der Galerist Aurel Scheibler es einmal versuchen wollte und auf der Art Basel die kleine Skulptur „Raumplastik Weiß M.I.“ (1975) von Kricke aus rechtwinklig gebogenem Draht für ein internationales Publikum ausstellte, wurde er von einem Besucher der Kunstmesse prompt angesprochen: auf diese interessante Arbeit von Fred Sandback. Der Amerikaner Sandback verstand sich als Künstler zwar auch auf die filigrane Geometrie jenseits von Masse und Volumen. Aber sein Medium waren im Raum verspannte Fäden, nicht Draht.

Von Nay sind ungewöhnliche Zeichnungen zu begutachten

Wahrscheinlich ist es also eine bessere Strategie, den in Deutschland einmal sehr bedeutenden Kricke, Teilnehmer der Documenta von 1959 und 1964, zuerst in seinem Heimatland zu rehabilitieren. Wahrscheinlich ist es eine gute Strategie, ihn in einer Doppelausstellung mit dem zwanzig Jahre älteren Säulenheiligen der deutschen Nachkriegsmoderne – und dreifachen Documenta-Teilnehmer – Ernst Wilhelm Nay zusammen zu zeigen. Beide lassen sie sich keiner Kunstströmung eindeutig zuordnen, schon gar keiner gemeinsamen. Beide werden sie sich in den fünfziger oder sechziger Jahren im Rheinland einmal über den Weg gelaufen sein. Beider Nachlässe werden von Aurel Scheibler vertreten.

Nays bekannteste Werke sind seine konfettibunten Scheibenbilder, wie sie etwa das Bundeskanzleramt schmücken. In einer gemeinsamen Ausstellung „Linie und Farbe“ ist er für die Farbe zuständig und Kricke für die Linie – könnte man meinen. Und läge falsch. Scheibler zeigt von Nay ausschließlich Zeichnungen, die zwar nicht alle ohne Scheiben, dafür aber ohne einen einzigen Klecks Farbe auskommen. Eine Tuschearbeit von 1954 ohne Titel (30 000 Euro) des sich damals für Neue Musik begeisternden Malers lässt an Notationen denken. Oder an Kandinsky. Sechs späte, nicht signierte Filzstiftzeichnungen – Formexperimente vielleicht oder Vorstudien – dokumentieren die Bedeutung der Linie in Nays Arbeitsprozess (je 3500 Euro).

Eine Ausstellung, die die Fantasie beflügelt

Nay neu, Kricke wieder entdecken: das ist die Chance dieser Schau. „Raumplastik Blau“ (1952) wurde bereits vom linksrheinischen Museum Ludwig entdeckt – und erworben. Krickes akkurat rechtwinklige oder frei gekurvte „Raumplastiken“ (ab 50 000 Euro) liegen in den Primärfarben Rot, Gelb und Blau sowie in Schwarz und Weiß auf weißen Podesten und schwarzen Tischen. Oder sie entwachsen einem schmalen Acrylständer vor blau gestrichener Wand wie die „Raumplastik Weiß 1968/I“ von 1968.

Ineinander verschlungene Stahlstäbe, die von einem Zentrum aus sich in den Raum ausdehnen – das sollte nach der Intention des passionierten Taubenzüchters Bewegung darstellen. Die kleine „Raumplastik Schwarz – Rot“ von 1955 nimmt unmittelbar die sieben Meter hohe „Große Mannesmann“ voraus. Seine späteren geometrisch präzisen, prägnanten Figuren aus nur noch einem Stück Draht weisen möglicherweise auf (den 21 Jahre jüngeren) Fred Sandbank voraus. Auch diese Doppelausstellung könnte man sich jetzt vorstellen – dem unkundigen Bewunderer auf der Art Basel sei Dank.

Galerie Aurel Scheibler, Schöneberger Ufer 71; bis 28.7, Di–Sa 11–18 Uhr

Jens Müller

Zur Startseite