zum Hauptinhalt
Tanz den radikalen Individualismus: Cordelia Wege, Elias Arens, Linda Pöppel, Niklas Wetzel und Anja Schneider in der Inszenierung von Sebastian Hartmann.

© Arno Declair

„Der Einzige und sein Eigentum“ am DT: Erschaffung des Ichs

Sebastian Hartmann inszeniert Max Stirners Hauptwerk „Der Einzige und sein Eigentum“ als Musiktheaterstück im Deutschen Theater Berlin.

Wer hätte gedacht, dass die hochtrabende Subjektphilosophie des 19. Jahrhunderts das Zeug zur astreinen Popschnulze hat? „Ich setze mich nicht voraus, weil ich mich jeden Augenblick überhaupt erst setze oder schaffe, und nur dadurch ich bin, dass ich nicht vorausgesetzt, sondern gesetzt bin“, hegelt – oder fichtet? – es über die Bühne des Deutschen Theaters Berlin.

Nein, es stirnert, aber dazu später. Erst einmal muss man sich vergegenwärtigen, wie Anja Schneider und Niklas Wetzel diese Sätze eben ganz ausdrücklich nicht gesetzt über die Rampe deklamieren, sondern sie intonieren, als wären sie für den Titelsong des neuesten Hollywood-Blockbusters gecastet worden.

Ein Sound, der auch über jenes Duett hinaus zu den tragenden Tonarten dieses zweistündigen Abends gehört, der zu Recht als „Musiktheater“ deklariert ist, weil tatsächlich fast ausschließlich gesungen wird. Eigentlich eine großartige Idee, denn wo sonst als in der Unterhaltungsindustrie hätte der pathetische Subjektbegriff einigermaßen ungebrochen überlebt in unserer (Post-)Postmoderne?

Überhaupt ist es ein hochinteressantes Projekt, das sich der Regisseur Sebastian Hartmann mit dem Komponisten und Musiker PC Nackt für den Spielzeitauftakt auf der großen Bühne vorgenommen hat.

Hartmann sucht nach der Essenz, den letzten Dingen

„Der Einzige und sein Eigentum“ heißt das Hauptwerk des 1806 geborenen Philosophen Max Stirner, das hier zum Inszenierungsgegenstand wird, (wieder am 11., 17. und 25. September) und sein Kernsatz lautet: „Mir geht nichts über Mich!“ Dass Stirner Personal- und Possessivpronomen grundsätzlich groß schrieb, illustriert hervorragend sein Gedankengebäude: eine Theorie des radikalen Individualismus, die alle äußeren Institutionen und übergeordneten (moralischen) Instanzen als gleichsam ichverfälschend ablehnt und im radikalen Ego-Kurs den Königsweg aus der „Unmündigkeit“ sieht.

Es war, wie dem Programmheft zu entnehmen ist, der Produktions- und DT- Chefdramaturg Claus Caesar, der die bestechende Idee hatte, Hartmann auf diesen Text anzusetzen: einen Regisseur, dessen Arbeit sich in den letzten Jahren immer konsequenter von klassischen Narrationen und Plot-Strukturen entfernt hat und der im Grunde in jedem Text, mit dem er sich beschäftigt, nach den Essenzen sucht – den, wenn man so will, letzten Dingen: Leben, Tod, Zeit – und eben: Ich. Diesen Texten baut Hartmann mit seinem Ensemble auf der Bühne eher Räume, die man maximal gedankenautonom zu durchstreifen eingeladen ist, als dass er sie in gängiger Literaturtheatertradition inszenieren würde.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.] 

Was nun den Stirner-Denkraum aus heutiger Sicht so interessant macht, sind Sätze wie „Meine Sache ist weder das Göttliche noch das Menschliche, ist nicht das Wahre, Gute, Rechte, Freie usw., sondern allein das Meinige“, aus denen geradezu idealtypisch das spricht, was sich 178 Jahre nach Erscheinen des „Einzigen“ zum postmodernen Subjekt verfestigt hat.

Die Negativseiten dieser Agenda liegen auf der Hand. Andererseits ist der vielseitig rezipierte (und vielfältig kritisierte) Stirner natürlich auch als Ideologiekritiker gelesen worden. Und Hartmann interessiert zudem das Moment der Notwendigkeit, sich von angestammten Mustern und Prägungen zu befreien, wie er im Programmheft ausführt.

Nichts geht über mich selbst

Auf der Bühne schafft der Regisseur seinem Ensemble – gewohnheitsgemäß – eher übergeordnete Situationen und Bilder für diverse Subjektzustände als derart konkrete Anknüpfungspunkte. Darin liegt prinzipiell seine Qualität, aber auch, gerade bei einem solchen Stoff, natürlich ein gewisses Enttäuschungspotenzial.

Den zentralen Stirner-Satz vom Ich, dem nichts über sich geht, ruft eine Cordelia Wege, der das Wasser buchstäblich bis zum Hals steht, aus einer Art geflutetem Schneewittchensarg hervor. In dieser assoziativen Weise begeben sich die Schauspielerinnen und Schauspieler in Adriana Braga Peretzkis großartigen Kostümen, die vom zeitkoloristischen Anzitieren klassischer Bürgertumsinsignien bis zum tagesaktuell anschlussfähigen Berghainparty-Outfit reichen, zu den melodiösen Minimal-Pop-Klängen von PC Nackt prinzipiell auf Ego-Recherche.

Linda Pöppel lässt – in einem langen gesprochenen Monolog – großartig die melancholische Seite des auf sich selbst geworfenen Ichs zur Sprache kommen, und Elias Arens turnt grandios die Stirner’sche Dialektik von Ich, Recht und Gesellschaft an die Rampe. Ein tolles Bild zum Thema Subjekt und Posthumanismus ist es, wenn Niklas Wetzel einen Roboter zerstört und das Ensemble diesen zu Grabe trägt.

Daneben gibt es aber auch Bilder, die sehr nahe liegen. Insgesamt lädt der Abend dazu ein, sich Stirner (noch) mal vorzunehmen – was ja nicht zu den schlechtesten Erträgen aus Theatergängen gehört.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false