zum Hauptinhalt

Kultur: Exzentriker unter Exzentrikern: Harnoncourt und Zehetmair

Wir können nicht sagen, wir hätten es nicht gewusst. Oder doch wenigstens geahnt, vorgefühlt.

Wir können nicht sagen, wir hätten es nicht gewusst. Oder doch wenigstens geahnt, vorgefühlt. Dieses Konzert des glänzend aufgelegten Berliner Philharmonischen Orchesters würde anders werden als andere. Das ist bei Nikolaus Harnoncourt, dem unermüdlichen Verfechter von Rhetorik und Klangrede, nämlich nie so. Insofern wiederum - unter jenem Anspruch des notorisch Besonderen, ja Extraordinären - war es dann eben doch ein Abend wie viele andere, kostbare unter diesem Dirigenten: konsequent im Gang in "die entgegengesetzte Richtung", unbestechlich in der Genauigkeit der Artikulation, schlagartig erhellend oftmals in der Analyse. Mit dem Geiger Thomas Zehetmair jedenfalls schien Harnoncourt, was das Exzentrische auch und gerade seines Mendelssohn-Bildes betraf, rundum glücklich. Alles auf Widerspruch, auf schroffe Fraktur, lautete ihr starkes Motto, und: bloß kein schöner Ton um des schönen Tones willen!

Das Publikum in der Philharmonie indes zeigte sich eher verstört ob so viel musikgewordener Intellektualität. Wer sich von Mendelssohns e-Moll-Violinkonzert den üblichen Gefälligkeitszauber erhofft hatte, der sah sich spätestens in der Kadenz des ersten Satzes ernüchtert. Wie Zehetmair in schwindelerregender Höhe überm thematischen Material seine Pirouetten drehte, um dann am Ende, in gleichsam geraspelten Springbögen, dem Orchester zu enteilen - das besaß gewaltigen Eros, lehrte, zumal Harnoncourt die drei Sätze quasi attacca spielen ließ, dass Felix Mendelssohn alles andere als ein verblasener Romantiker gewesen sein muss. Eine späte, eine ungeheuer mutige Ehrenrettung. Allein, so richtig hören wollte das leider keiner.

Auch Harnoncourts Lesart von Bruckners Dritter, der mutmaßlichen "Wagner-Symphonie" des Linzer Sonderlings, schürte nicht eben die Lust an der Identifikation. Wo ausgewiesene Bruckner-Koriphäen wie Sergiu Celibidache oder Günther Wand mehr auratische Räume bestimm(t)en, wo es gilt, eine sakrale Architektur zu errichten, in die das musikalische Geschehen raunend Einzug hält, da leugnete Harnoncourt über weite Strecken jede Metaphysik: kein Heilsversprechen, das die erratischen Blöcke des ersten Satzes mit der ländlernden Lustigkeit des zweiten versöhnt hätte, kein Trost für die vielen manisch-sisyphusartigen Anläufe und Abbrüche im Adagio. Eine Musik wie Packeis, das niemals schmilzt. Eine Musik aus dem Kopf für den Kopf.

Christine Lemke-Matwey

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false