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Das Begehren, ein Kreuz. Kathrin Angerer als Katerina und Marc Hosemann als Murin in Frank Castorfs Adaption einer Dostojewski-Erzählung.

© Eventpress Hoensch

Volksbühne: Fallende Fieberkurve

Dostojewski oder nie: Frank Castorf inszeniert „Die Wirtin“ an der Volksbühne relativ vorlagentreu und schnell. Die Bühne von Bert Neumann ist spektakulär.

Mit Sicherheit sprach Frank Castorf vielen aus der Seele, als er kürzlich in einem Berliner Stadtmagazin das grassierende deutsche „Einschaltquotentheater“ beklagte. „Diese Ordentlichkeit, die bis in die Kantinenordnung geht, ist schon deprimierend“, sagte er.

Dem Quoten-Drama und allen sonstigen Ordentlichkeiten hat sich der Volksbühnenchef selbstredend auch diesmal konsequent verweigert: Statt Rationalität und Erzählökonomie regieren in seiner neuen Inszenierung Fiebertraum und Mystizismus. Nach den legendären Dostojewski-Romanadaptionen der Nullerjahre wendet sich Castorf jetzt den Erzählungen des russischen Ausnahmeschriftstellers zu und beginnt mit der 1847 erschienenen „Wirtin“.

Dort ist der weltfremde Jungintellektuelle Ordynoff auf Zimmersuche und begegnet in einer Kirche der unbeschreiblich schönen Katerina nebst ihrem düsteren, schwer betagten Begleiter Murin. Spätestens, als Katerina vor einem Heiligenbild auf die Knie sinkt, verfällt Ordynoff ihr unsterblich. Er zieht bei dem seltsamen Paar ein und wird sogleich von einem heftigen Fiebertraum aufs abgerockte Bettenlager niedergestreckt.

Ob selbiger auf den folgenden hundert Seiten je aufhört, lässt Dostojewski bewusst offen: Die Grenze zwischen körpertemperaturbedingtem Wahn, Halluzination und Wirklichkeit bleibt fließend, wenn Katerina in tiefer religiöser Demut ihre finstere Familiengeschichte enthüllt: Mit dem einst erfolgreichen, mittlerweile aber bankrotten Kaufmann Murin – dem Liebhaber ihrer eigenen Mutter, der bei Dostojewski freilich deutlich diabolische Züge trägt – war sie einst aus dem Elternhaus geflohen und ist dem Alten seither in sklavischer Liebe verbunden. Der russische Literaturkritiker Wissarion Belinski kanzelte die schauerromantisch an E. T. A. Hoffmann gemahnende Dreiecksgeschichte klar als „schauerlichen Blödsinn“ ab.

Zumindest ist „Die Wirtin“ – gemessen an Castorfs früheren Dostojewski- Abenden – ein echter Shorty, der sich zunächst recht vorlagentreu durchs Geschehen arbeitet; allerdings in einem spektakulären Setting. Bert Neumann hat für den pausenlosen Zweieinhalbstünder eine schwarze Holzbaracke auf die weite, weiße Drehbühne gestellt. Der davor platzierte Brunnen, der sich hervorragend zum temporären Abtauchen eignet, ist allerdings eher selten in Nutzung. Und die Vorderbühnen-Auftritte von Katerinas Eltern (Bärbel Bolle und Volker Spengler) werden ebenso wenig überstrapaziert wie das Feuerholzhacken auf dem bereitstehenden Baumstamm.

Die meiste Zeit – und dieses Motiv wiederum ist ja aus Castorfs früheren Dostojewski-Arbeiten, namentlich dem „Idioten“, bestens bekannt – nimmt das Begehrensdrama im schwer einsehbaren Bungalow seinen Lauf. Was zwischen der ikonenreichen Kapelle, Ordynoffs Bettenlager und den durchaus handlungstragenden Sanitäranlagen, die Neumann dort hineingebaut hat, passiert, sehen wir größtenteils nur per Videoprojektion: Kathrin Angerers Katerina changiert in ihren langen Gewändern und schön nahe am Historienkitsch gebauten Kopfputzen perfekt zwischen Madonnenlächeln und bodenlosen Abgründen. Dem Murin, den Marc Hosemann unter der Russenklischee- Mütze hervorschauen lässt, glaubt man jeden unkontrollierten Waffengebrauch sofort. Und Trystan Pütter steigt als Ordynoff dreckverschmiert aus dem Plumpsklo empor, um sich seiner Angebeteten mit wirklich bewundernswerter Kraft in die Arme zu werfen.

Im interessantesten Moment des Abends hält er einen alten Fernseher mit Katerinas Konterfei in den Händen – was die Zuschauer wiederum als Bild im Bild auf der Videoprojektion sehen. Über Bilder lässt sich an diesem Abend tatsächlich viel nachdenken, wenn auch nicht in jedem Fall so unmittelbar inhaltsgebunden wie in diesem. Denn neben der fiebrigen Story und dem im Bungalow abgeschotteten Live-Geschehen verweigert sich freilich auch die Video-Ebene schlichten Verfügbarkeitsmustern: Die Grobkörnigkeit, in der das Geschehen über die Projektionsfläche flimmert, wirkt ein bisschen, als hätten sich Andrej Tarkowski, der russische Märchenfilm der siebziger Jahre und der naturgemäß schwer kitschgefährdete Historienschinken auf dem plausibelsten gemeinsamen Nenner getroffen. Stärker könnte das Bungalow-Innenleben mit dem äußeren Setting kaum kontrastieren.

Das, was sich in dieser bemerkenswerten Installation de facto abspielt, mäandert allerdings – durchaus vorlagentreu – auf gleichbleibendem Erregungsniveau hermetisch vor sich hin. Für Castorf-Verhältnisse relativ spät, nämlich erst in der letzten halben Stunde, stellt etwa Hendrik Arnst als Ordynoff-Bekannter Jaroslaff Iljitsch im besten Berliner Hausmeisterton minimale Bezüge her zwischen Dostojewskis Befund, das russische Volk lebe ganz in der Orthodoxie, und dem Auftritt der Punkband Pussy Riot in der Moskauer Christ-Erlöserkirche. Auch das allerdings nicht mehr als ein vager, abrupt endender Fiebertraum.

Nächste Vorstellungen am 9.11., 19 Uhr und 25.11., 18 Uhr.

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