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Flug BLÄTTER: Feier des Zwischenraums

Bora Ćosićs Text-Kaleidoskop "Lange Schatten in Berlin" ist ein kleines, schwebendes Meisterwerk.

Von Caroline Fetscher

Auf einmal entdeckt jemand, der in der Welt zu wohnen glaubt, dass es anders ist. „Denn wie sich zeigt, ist das vermeintliche Daheim ein Durchgangszimmer.“ Gültigkeit erlangt diese Erkenntnis nicht nur für die Existenz im Exil. Bora Ćosić versteht es, dieses Durchgangszimmer des Lebens vollends zur poetischen Allegorie zu weiten. Erinnernd und rätselnd, befremdet, amüsiert, wandert ein Ich durch das Zeichensystem der Welt, die ihren Bewohnern Surreales als Realität vorgaukelt, und ihnen dabei vorenthält, dass sie selber diese Welt gestaltet haben. Mit „Lange Schatten in Berlin“ (Aus dem Serbischen von Brigitte Döbert. Mit s/w-Fotografien von Lidija Klasić Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2014, 160 S., 16,95 €) hat Ćosić, einer der großen Autoren Ex-Jugoslawiens, seinen komplementären Band zu „Eine kurze Kindheit in Agrar“ verfasst. Zur Kinderzeit in Agram, also Zagreb, gesellt sich das Altern in Berlin, zum Staunen des Kindes sind die ungezählten Schichten der Wahrnehmung und Erfahrung hinzugekommen, die eine Hausfassade als Familienalbum lesen lassen, einen Briefkasten als Ersatzbau, einen Koffer als Bahnhof. „Wenn wir alte Koffer öffnen, die aus Pappkarton gefertigt und so bemalt sind, dass der Karton wie Leder wirkt, finden wir im Deckel Verstrebungen ähnlich der Dachkonstruktion einer Bahnhofshalle.“

In der „Kommunion mit der Welt“ bildet sich im Mikrologischen das Makrologische ab, in einem Gegenstand ein anderer, vor allem in transitorischen Orten. „Die Gewölbe der U-Bahnhöfe sehen nicht wie Gewölbe von U-Bahnhöfen aus, manche imitieren ein Schwimmbad, andere ein Krankenhaus, wieder andere eine Börse oder die Nationalbibliothek, je nach Geräuschkulisse, Ereignisdichte und Material, aus dem die Station gebaut ist.“ Immer wieder auch beschäftigen Skizzen, Pläne, Aufrisse den Schreibenden auf dem Gelände zwischen Zeichen und Bezeichnetem. Korridore werden untersucht, Türen, Dielenbretter, Geländer, Treppenhäuser, Besenkammern, Küchen, Nischen, der Türspion, die Klinken, die Schatten der Gegenstände. Dazwischen steigen Gerüche aus der Kindheit auf, Erinnerungen an die Kissen nähende Großmutter, den Büropläne zeichnenden Vater, ein Haus auf dem Land in Slawonien, wo das ferienreisende Kind einst, wie ein Botschafter, sein „Mandat des Sommers“ genoss.

Hinter den Fenstern des Berliner Nachbarhauses empfangen russische Nachbarn einen Gast, weinen, werfen die Arme in die Höhe, pressen die Hand aufs Herz und wecken im Autor Erinnerungen an die Stummfilmzeit. Ćosić, der „eine Lanze für den Zwischenraum“ brechen will, den schon der Junge liebte, der sich im Spalt zwischen einer Doppeltür versteckte, öffnet auch einen Raum zwischen Ernst und Spiel, für den man ihm zuliebe einen neuen Namen erfinden müsste. Seine „kleine Geometrie der bürgerlichen Klasse“, deren emotionales und dinghaftes Inventar sich in ganz Europa ähnelte, bleibt philosophisch reflexiv, melancholisch. Die bürgerlichen Räume erweisen sich als Spiegelungen von Innenräumen, als Entwürfe, die nie aufgingen, und die noch immer die Verbindung zur Barbarei leugnen, die das 20. Jahrhundert markierte.

Ein Handbuch für den Aufenthalt im zwanzigsten Jahrhundert

Zu den Geschwistern dieses Buches wird Walter Benjamins „Berliner Kindheit“ zählen, vielleicht auch Gaston Bachelards „Poetik des Raumes“. Doch Ćosić nimmt sich eine untergründige Heiterkeit zur Begleiterin, die sich gegen die Zumutungen der Schwere wehrt, mit der die Zivilisation im vergangenen Jahrhundert bedroht war, an dessen Ende, wie zur Erinnerung noch mal, im Herkunftsland des Autors, in Jugoslawien.

So entfaltet Bora Ćosić ein nahezu magisches Panorama aus Vignetten, mit seinem Exilwohnsitz Berlin als Spurengeber zu eben dem „Handbuch für den Aufenthalt im zwanzigsten Jahrhundert“, das der Autor anfangs vermisst. Unaufdringlich, fein gewoben, dicht durchdacht hinterlässt der spurensuchende Text selber eine Spur, etwa wie nach der Kommunikation mit einem großen Kunstwerk der Moderne, wenn man zurück auf die Straße des Alltags geht, der danach keiner mehr ist. Ćosić Text-Kaleidoskop ist ein kleines, schwebendes Meisterwerk über den Bezug der Gegenwart zur Vergangenheit und den des Individuums zur Welt.

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