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Kultur: Fest des Unheils

Was ist Wahrheit? Luciano Berios „La vera storia“ mit Milva an der Hamburgischen Staatsoper

Von Sybill Mahlke

Traulich wie ein altes Schwarzweiß-Foto empfängt uns das Bühnenbild von Ezio Toffolutti in der Hamburgischen Staatsoper: mediterrane Kleinstadt-Renaissance, ein Balkon, eine Laterne, Wölkchen halbmatt, Morgengrauen, das auf die Sonne wartet. Die Offenheit der Szene darf sich einprägen, während das Publikum den Zuschauerraum betritt.

Die Zusammenarbeit des Komponisten Luciano Berio mit dem Dichter Italo Calvino hat keine neue Einfachheit hervorgebracht, sondern stets das Komplizierte und Reflektierte. 1984 inszeniert Götz Friedrich in Salzburg die Uraufführung von „Un Re in ascolto“. Vordergründig gibt es dort einen Theaterdirektor mit Theaterproblemen, der Prospero heißt und Shakespeares „Sturm“ nahesteht, tatsächlich verbirgt sich dahinter „eine ganze Welt von verschlüsselten Chiffren“ (Berio). Kurzum: Er möchte, dass wir, die Zuschauer, uns im Kopf Prosperos befinden und einrichten.

Ein ähnlich geartetes intellektuelles Bekenntniswerk der beiden Italiener entsteht etwa zeitgleich Ende der siebziger Jahre: „La vera storia“. Obwohl es Anspielungen auf Verdis „Troubadour“ enthält, ist es ebensowenig wie die Prospero-Geschichte eine Literaturoper. Die inhaltlichen Parallelen gehen so: Zwei Männer aus politisch verfeindeten Lagern wissen nicht, dass sie miteinander verwandt sind, Brüder-Feinde, und sie lieben dieselbe Frau. Die Personenkonstellation Luna- Manrico-Leonora bei Verdi wird von Berio in das Dreieck Ivo-Luca-Leonora übertragen, da er, gleich seinem Lehrer Dallapiccola, ein großer Verehrer Verdis ist. Aber er meidet jede Eindeutigkeit: „Die Figuren dürfen nicht Gefangene eines Librettos sein.“ In der zweiten Ebene des Werkes, offenbar besonders geprägt von Calvino, wird das Fest in seiner Ambivalenz behandelt, das fröhliche Fest, das alle Vernunft überschreitet, bis es Zerstörung und Opfer provoziert. Karneval, Rollentausch, eine Exekution, die mit sadistischer Freude oder Ekel von der Öffentlichkeit betrachtet wird. Eine Totenwache der Ada alias Azucena spendet vage Hoffnung: „Vielleicht.“ Doch damit endet die Verwirrung nicht, weil „La vera storia“ jene wahre Geschichte, die der Titel verspricht, selbst in Frage stellt. Auf Teil 1 mit Arien, Terzetten, Duetten und sechs kommentierenden Balladen folgt der opernfernere zweite Tei: Hier wird der narrative Faden ganz aufgegeben, der Text indes in seinem dunklen Tonfall neu zusammengesetzt. Lucas Gefängnismonolog „Eine Wolke steht da hinterm Gitter“, Gedanken, die um das „Gefängnis in uns“ kreisen, sind nun auf eine Vokalgruppe mit Saxophon und Klarinette verteilt. Milva, die Berühmte, mit der die Staatsoper punktet, gerät unter die „Passanten“, bis die Protagonisten vom Festtag als einem „Todestag des Unheils“ singen und Ada ihr utopisches „Vielleicht“ verhaucht.

Milva war schon 1982 bei der Uraufführung an der Mailänder Scala dabei. Dass die Deutsche Erstaufführung erst nach zwei Jahrzehnten erfolgt, verwundert wenig angesichts der verknäuelten Schwierigkeiten des Werkes. Milva mit ihren Protestballaden in Begleitung von Gitarren, Geige, Akkordeon oder Klavier auf der Bühne spricht für sich. Von der Inszenierung jedoch hätte man sich mehr Aufschlüsselung, Klarheit und Beziehungsreichtum gewünscht, als der Regisseur Henning Brockhaus sie zu stiften weiß. Ein sonderbar spießiger Aktionismus macht sich breit, Nutten tanzen den Schieber, eine Madonnen-Devotionalie wird herumgeschleppt, das gängige Bild von Geistlichkeit, Militär und Ministranten ausgebreitet.

Nach der Pause darf ein Teil des Publikums auf der Bühne sitzen, während die Hauptdarsteller sich umständlich mit Notenpulten versehen, als wollten sie den Hobby-Musikern in Thomas Bernhards „Macht der Gewohnheit“ nacheifern. Im Saal schleichen „Schergen“ herum und beobachten uns Theaterbesucher mit scharfem Blick: Polizeistaat überall. In der Slow Motion sind Anklänge an Video-Installationen zu entdecken.

Es ginge indes mehr darum, wie sich eine Geschichte aus unterschiedlicher Sicht erzählen lässt. Das Thema ist dem Filmklassiker „Rashomon“ verwandt. Toffoluttis atmosphärisches Bühnenbild aber fällt abendfüllender Kulissenschieberei anheim. Der Tatendrang, mit Wänden und Podesten herumzufahren, läuft Gefahr, die Musik zu überschwemmen. Sie zu ordnen, beschäftigt Maestro Ingo Metzmacher eine Kodirigentin auf der Bühne, eine musikalische Souffleuse nicht nur für die diffizilen Chöre. Helen Kwon (Leonora), Paul Lyon (Luca), Yvonne Naef (Ada), Ashley Holland (Ivo) und Andreas Hörl (der Verurteilte): Trotz hohen Einsatzes kann das Ensemble in Hamburg die Frage nicht beantworten, ob „La vera storia“ im Überlebenskampf der Theater ihre historische Wichtigkeit behaupten wird, nämlich die einer eigenen Musikdramaturgie.

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