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Kultur: Fluch der Familie

Berlinale-Wettbewerb: Claude Chabrols „La fleur du mal“ lässt im Garten der Bürger die Blumen des Bösen blühen

Schon in der Ouvertüre stimmt Claude Chabrol die Motive seines eindreiviertelstündigen Familien-Krimis an und legt eine Schlinge. Die Kamera fährt durch dicke Büsche, als sei’s ein tropischer Garten, streift kurz über Früchte mit Stacheln, dann eine rosig blühende Hortensie und die mit Efeu bewachsene Wand eines französischen Stadtrand-Villa – und schon sind wir drinnen im familiären Interieur der gehobenen Bourgeoisie: dort, wo der wahre Dschungel beginnt. Eine weißhaarige Dame deckt die gute Tafel, durch das Haus weht ein melancholisches Chanson („Un souvenir“), und im Obergeschoss liegt: ein erschlagener Mann.

„La fleur du mal“, die Blume des Bösen, frei nach dem Gedichte-Titel von Charles Baudelaire, nennt Chabrol, der 73-jährige Großmeister des Abgründigen, seinen 38. Kinofilm. Einmal mehr ist die bürgerliche Idylle darin nichts anderes als eine komfortable Hölle, sind Familienbande fein und furchtbar gesponnene Fäden, an denen die Generationen zappeln und zerren.

Freundlich, aber auch ein wenig frostig wirkt gleich die erste Begegnung: Gérard, ein drahtiger Mittfünfziger (Bernard Le Coq), holt seinen Sohn François am Flughafen ab; drei Jahre hat man einander nicht mehr gesehen, François hat in Amerika studiert. Nun kehrt er ins anfangs gezeigte Elternhaus zurück, zur Mutter Anne (Nathalie Baye) und ihrer Tochter Michèle, die aus Annes erster Ehe stammt, und zum Faktotum der Familie Charpin-Vasseur, Tante Line (die weißhaarige Dame), eine reizend Herzensgute – wir sagen nur: Arsen ohne Spitzenhäubchen.

Sehr bald wird klar, wer wen liebt und betrügt. Die beiden jungen Halbgeschwister begehren einander, Vater Gérard, immer jovial, kühl gelaunt und gut für einen Whisky vorm Wein, betreibt einen florierenden Pharmabetrieb und holt sich am Nachmittag wechselnde junge Frauen ins Büro, während sich seine Frau, begleitet von einem alerten Assistenten, in die Lokalpolitik stürzt. Man ist im Wahlkampf, irgendwo bei Bordeaux, nahe dem Meer, da tauchen anonyme Flugblätter auf, die die Familiengeschichte der Charpin-Vasseurs erzählen. Einer der Großväter war ein exponierter Nazi-Kollaborateur, der den eigenen Bruder ans Messer lieferte, er wurde dann auf ungeklärte Weise ermordet, und auch später häuften sich die Unglücks- und Todesfälle auf Seiten der Sippen Charpin und Vasseur, die doch aneinander hingen und hängen, bis zu den beiden Jungen und ihrer Wälsungenliebe (im Sinne Wagners und Thomas Manns).

Überhaupt ist das alles ein quasi-mythischer Fall. Über dieser Bordelaiser Familie hängt ein Fluch, als seien es die gutbürgerlichen Atriden von nebenan. Das freilich macht die Geschichte auch ein wenig zäh. Anfangs glaubt man noch, Chabrol würde die alte Fabel der „Unschuldigen mit den schmutzigen Händen“ (so hieß einer seiner legendären Filme) mit ironisch leichter Hand, im Komödienkammerton erzählen – bis in den Herzen sich sanft die Mördergruben öffnen.

Doch „La fleur du mal“ hat Rhythmusprobleme, wird zu breit und schwer im Mittelteil, wo überm Flirt der Jungen immer das bleierne Unheil dräut. Nathalie Baye als Wahlkämpferin (sehr schön die Hausbesuche bei Unterschichtmietern) bietet zwar allerhand Witz, Bosheit, Hellsicht, aber die Spannung zum Ehemann, der ihre politische Karriere verabscheut, bleibt undeutlich, obwohl ihr Gatte Gérard die interesanteste Figur macht: von Bernard Le Coq mit dem schmallippigen Charme eines Womanizers gegeben, der nur des Spiels wegen spielt, passionslos, aber besessen. Umso unvermittelter sein Alkohol-Ausraster zum Schluss, eine plump inszenierte Anmache der Stieftochter, was den Zudringlichen das Leben kostet. Worauf nun Tante Line das Regiment übernimmt und die Verantwortung für den Tod: als symbolische Sühne dafür, dass sie unentdeckt einst den Nazi-Vater erschlug.

Ein dickes Ende, doch die Wendung ist überraschend und Chabrol hier wieder in Hochform. Jean Paul hat gesagt, die Erinnerung sei das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden könnten. Madame Line und Claude Chabrol aber lehren uns: In diesem Paradies brennt auch das Fegefeuer.

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