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Tocotronic

© Michael Petersohn / Universal

Tocotronic-Konzert in Berlin: Forever Rotzlöffel

Altern ist ungeil, aber unvermeidlich: Tocotronic gehen schon mal voran - in der Berliner Columbiahalle.

"Psssst, psssst", macht die Rucksackträgerin und hört, als das Gequatsche der Umstehenden verebbt, angestrengt dem zu, was vorne verkündet wird. Die Columbiahalle ist offenbar ein überbelegtes Proseminar in der Rostlaube, und gleich werden die Referatsthemen vergeben. Gespannte Unsicherheit liegt in der Luft, als Scheinwerfer die Bühne rot anstrahlen. Jetzt ist Textsicherheit gefragt. Es kann alles dran kommen, aus 20 Jahren und elf Alben!

Doch Prof. von Lowtzow hat einen guten Tag. "Nur wenn wir Herzen und Grenzen öffnen, können wir Liebe geben und empfangen", phrasiert er auf seine ganz eigene, sorgfältige Art ins Mikrofon. Noch mal Glück gehabt. Mit der Liebe, der großzügigen Gleichmacherin, kennt sich ja jeder aus. Schon Love-Freak Erich Fromm wusste: "Die Unterschiede von Begabung, Intelligenz und Wissen sind nebensächlich im Vergleich zur Identität des menschlichen Kerns, der uns allen gemeinsam ist." Da ist es wirklich zweitrangig, ob ein Song nun auf der Platte "K.O.O.K." oder "Wie wir leben wollen" erschienen ist, oder ob mal ein "w" in "von Lowtzow" unter den Tisch fällt.

Oh Stress, auf welcher Platte war denn nun der Song nochmal?

Trotzdem spiegeln sich in den Gesichtern des Publikums das Unbehagliche des Sich-Auskennen-Müssens und die vorläufige Erleichterung des Gott-sei-Dank-Einordnen-Könnens – jedenfalls im ersten Teil der Show. Erst als mit "Aber hier leben, nein danke" endlich die Fäuste geballt werden können, lockert sich die Stimmung.

Dirk von Lowtzow überzeugt als strenger Professor und entspannter Innenminister. Am besten ist er aber, wenn er rockt: "Wer hat das Wochenende erfunden? /Die ganze Menschheit geht daran zugrunde / Zugrunde an der Gemütlichkeit / Zugrunde an der Gartenarbeit /Zugrunde an zuviel Freizeit / Samstag ist Selbstmord." Everyday is like Saturday- jetzt ist er sogar der deutsche Morrissey. Das unpigmentierte Haar von Lowtzows ist ein echter Blickfänger.

Sich selbst beim Älterwerden zuzuschauen sei eben schwierig, hat der Wahl-Berliner vor einigen Jahren in der Sarah-Kuttner-Show gesagt. Macht nichts, die Columbiahalle ist ausverkauft. Es sind ja genug Zuschauer da. Irgendwo raunt immer einer: "Mann, guck mal, sind die alt geworden." Und ein anderer antwortet: "Wir doch auch." - Nein, der deutsche Mick Jagger ist von Lowtzow nicht. Er altert sicherlich eher ungern, aber er lässt es immerhin geschehen.

Die Hölle der verwohnten Lieben

Eine fantastische Hymne auf "Das rote Album" (2015) ist "Die Erwachsenen". Von Lowtzow singt: „Alles ist so zyklisch /Und dennoch unveränderbar /Verwohnte Liebe ist behaglich / Doch ihre Hölle offenbart sich uns / Unmittelbar / Wir sind Babys / Wir spucken ihnen ins Gesicht." Wie kein zweiter kleidet er die Rotzlöffeligkeit einer Generation in Worte. "Ein zartes Stück mit selbstzerstörerischer Kraft" hatte er angekündigt. Berufsjugendlich sind andere. Das befürchtete Neunziger-Jahre Revival, es findet nicht statt.

Und doch, wir erinnern uns gerne: 1996 sollten den Tocotronic-Mitgliedern auf der Popkomm (!) der "Comet" in der Kategorie "Jung, deutsch und auf dem Weg nach oben" verliehen werden. Sie lehnten ab. Zur Begründung hieß es: "Wir sind nicht stolz darauf, jung zu sein. Und wir sind auch nicht stolz darauf, deutsch zu sein. Und auf dem Weg nach oben, naja …" Vielleicht die Essenz der Band in drei Sätzen. Übrigens: "Newcomer National" wurde damals Tic Tac Toe.

Und am Ende alle vor die Krachmauer

Tocotronic steigern sich im Laufe des Abends unaufhaltsam. Jan Müller (Bass), Arne Zank (Schlagzeug) und Rick McPhail (Keyboard, Gitarre) spielen sich mehr und mehr in Rage. Ein früherer Tempowechsel hätte dem Abend gut getan. Schließlich dann, schon als Zugaben "Let There Be Rock", „Pure Vernunft darf niemals siegen“ und "Freiburg": "Ich weiß nicht, warum ich euch so hasse ...". Eine riesige Wall of Sound baut sich vor den verschreckten Zuschauern auf, die gerade noch ein zärtliches Moshpit geformt hatten und jetzt nur noch begeistert starren. Die Krachmauer umarmt jeden, ein Kiffer auf dem Balkon merkt gar nicht, wie ihm der Security-Mann die glimmende Zigarette aus der Hand nimmt.

Seminar erfolgreich abgeschlossen, aber bis zur Scheinfreiheit dauert's noch.

(Noch einmal heute, Sonnabend, 24.10., 20 Uhr, in der Columbiahalle)

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