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Andre_Gorz

© Rotpunktverlag/Gorz

Gemeinsam in den Tod: Die Freiheit wählen

Eine Liebe zu D.: Der Sozialphilosoph André Gorz und seine Frau wählten den gemeinsamen Freitod. Dorine Gorz litt schon seit Jahrzehnten an einer unheilbaren Rückenmarkserkrankung.

Von Gregor Dotzauer

„Nicht Worte. Eine Geste“, lautet im August 1950 Cesare Paveses letzter Eintrag in sein Tagebuch „Das Handwerk des Lebens“, bevor er sich zehn Tage später in einem Turiner Hotelzimmer mit Barbituraten vergiftete. Eine Urszene des literarisch angekündigten Selbstmords im 20. Jahrhundert. Als man am Dienstag den Philosophen André Gorz und seine englische Frau Dorine im selbst gewählten Tod einträchtig nebeneinander liegend fand, hing an der Tür ihres Häuschens in Vosnes im Département Aube nur ein Zettel: „Prévenir la gendarmerie“.

Nicht auszuschließen, dass noch ein Abschiedsbrief auftaucht. Doch mit „Brief an D.“, jener im Zürcher Rotpunktverlag soeben auf Deutsch erschienenen „Geschichte einer Liebe“, deren Lektüre einem auch ohne Kenntnis ihres Endes die Tränen in die Augen treibt, hat er ihn im vergangenen Jahr eigentlich schon geschrieben. „Soeben bist du zweiundachtzig geworden. Und immer noch bist Du schön, anmutig und begehrenswert“, bekennt der ein Jahr ältere Gorz darin. „Seit achtundfünfzig Jahren leben wir nun zusammen, und ich liebe Dich mehr denn je. Kürzlich habe ich mich von neuem in Dich verliebt, und wieder trage ich in meiner Brust diese zehrende Leere, die einzig die Wärme Deines Körpers an dem meinen auszufüllen vermag.“ Im letzten Absatz heißt es: „Ich will nicht bei Deiner Einäscherung dabei sein; ich will kein Gefäß mit Deiner Asche erhalten.“ Und: „Jeder von uns möchte den anderen nicht überleben müssen.“

Freitod aus Liebe

Der gemeinsame Tod aus freien Stücken hat ihnen dieses Glück geschenkt. Die unheilbare Rückenmarkserkrankung, die Dorine seit Jahrzehnten quälte, eine Arachnoiditis, deren Umstände Gorz ausführlich darstellt, hat ihn begünstigt. Doch im Unterschied zu Pavese, der 41-jährig die Summe seines Lebens zog, war es kein Akt der Gewalt, sondern ein Akt der Liebe und der Freiheit – soweit Freiheit bedeutet, in Übereinstimmung mit den eigenen Werten zu handeln. Was auf den ersten Blick monströs wirkt, ist in Wahrheit der denkbar diskreteste Entschluss, ein entgleitendes Leben in die Hand zu nehmen. Es gibt nur kaum einen Weg, das anderen mit entsprechender Diskretion zu vermitteln. Auch der gnädigste Tod erscheint als Skandal.

André Gorz muss gewusst haben, dass er und Dorine eine Geste wählten, die der Worte bedurfte. Wobei schon die Worte selbst eine Geste waren. Denn sosehr der „Brief an D.“ eine Summe seines Lebens zieht, sowenig enthält er die Summe seines Denkens. Das Bewegende besteht gerade darin, dass Gorz zugibt, den coup de foudre, der ihm mit der rothaarigen Schönheit in Lausanne widerfuhr, nie in Einklang mit seiner Arbeit gebracht zu haben. „Warum nur bist Du in all dem, was ich geschrieben habe, so wenig präsent, während doch unsere Verbindung das Wichtigste in meinem Leben gewesen ist?“ Die Abbitte, die dieses Buch leistet, betrifft indessen mehr das tägliche Miteinander des Paars als einen im Werk sichtbaren Widerspruch zwischen Denken und Handeln. Wer unter den undogmatischen, marxistisch geprägten Theoretikern, die er zu seinen Verbündeten zählte, hätte den Traum von einer auf ökologischen Mikrokooperativen beruhenden nachkapitalistischen Gesellschaft besser vorgelebt?

In Gorz’ Denken kreuzen sich soviele Traditionen, dass er selber darüber spotten konnte. Die Engländer, erklärte er dem „Nouvel Observateur“, den er einst mit begründete, halten mich für einen Erben von Jean-Paul Sartre. Als Gorz ihm in Lausanne begegnete, kannte er schon dessen ganzes Werk und folgte ihm später nach Paris, in die Redaktion der Zeitschrift „Les Temps Modernes“. Die Deutschen wiederum, sagte er, betrachten mich als Abkömmling von Denkern wie Adorno oder Marcuse. Die Franzosen schließlich sehen in mir einen Schüler von Ivan Illich und seiner Industrialisierungskritik. Mit Illich verband ihn eine enge Freundschaft. Dennoch hat der österreichische Jude Gorz, der 1923 in Wien unter dem Namen Gerhard Hirsch geboren wurde, mit seinen Analysen vom Ende der klassischen Arbeitsgesellschaft und der „inhalts- und substanzlosen Geldvermehrung“ auf den Finanzmärkten etwas Eigenes daraus gemacht.

Gorz wollte keine Umverteilung

Besonders seine letzten Bücher „Arbeit zwischen Misere und Utopie“ (2000) und „Wissen, Wert und Kapital“ (2004) sind Schlüsselwerke für das Verständnis jener „prekären“ Arbeitsverhältnisse, die Gorz nach dem „Exodus des Kapitals“ aus den westlichen Gesellschaften als einer der ersten heraufdämmern sah. Das Prekariat sollte nach dem „Abschied vom Proletariat“ (1980) aber nicht nur als bedrohliche Perspektive empfunden werden, sondern, wenn der Staat für ein Grundeinkommen Sorge trägt, auch gesellschaftsverändernde Kräfte entwickeln. Das Grundeinkommen, hoffte Gorz, würde den „Unsinn eines Systems“ hervorheben, „das nie zuvor erreichte Arbeitszeitersparnisse ermöglicht, aber aus der so freigesetzten Zeit Not und Elend macht, weil es weder diese noch die produzierten oder produzierbaren Reichtümer zu verteilen und ebenso wenig den eigentlichen Wert von ,Mußezeit als Zeit für höhere Tätigkeiten’ (Marx) zu schätzen weiß.“ Um diese gesellschaftlich sinnvollen Tätigkeiten ging es ihm – nicht um Umverteilung.

Gorz verstand sich als radikaler Reformer. Der Zusammenbruch der kommunistischen Welt schreckte ihn nicht, denn von ihren geschichtsphilosophischen Verheißungen hatte er sich nie blenden lassen. Auch das revolutionäre Subjekt hielt er für erledigt, nachdem der Kapitalismus jegliches antagonistische Klassenbewusstsein ausgelöscht und seine Ideologie ins Innerste der Individuen verlagert hatte. Seine Vision einer besseren Gesellschaft basierte auf klaren Analysen und einem unverbrüchlich optimistischen Menschenbild. Wer nur erst Gelegenheit hätte, das Joch der entfremdeten Lohnarbeit loszuwerden, der würde sich auf das Wesentliche im Leben besinnen. Man kann das für naiv halten. Die Konsequenz, mit der er diesen Gedanken für sich und Dorine umsetzte und aufs Land zog, spricht dagegen. Für ihn war seine Frau das Wesentliche. Der „Brief an D.“ bekräftigt das über alles Private hinaus.

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