zum Hauptinhalt

Kultur: Geschichten, die sich selber schreiben

Eine Erinnerung von Martin Walser

Stand:

Martin Walser, der am kommenden Sonnabend seinen 80. Geburtstag feiert, erinnert sich im folgenden Beitrag an sein 1955 erschienenes Erzähldebüt „Ein Flugzeug über dem Haus“. Sein Text erscheint dieser Tage in Renatus Deckerts Anthologie „Das erste Buch“, in dem sich über neunzig deutschsprachige Schriftsteller und Schriftstellerinen an ihre Anfänge erinnern (Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M., 358 S., 10 €).

Verglichen mit heute, habe ich in einem Traum gelebt. Da schrieb ich einfach hin: „Der Mut, den man braucht, Sparkassenräuber zu werden, auf blankem Steinboden in die taghelle Schalterhalle einzudringen, dieser Mut fehlte mir, als ich von meinen Erziehern gedrängt wurde, einen Beruf zu wählen.“ Hatte ich einen solchen Satz hingeschrieben, stellte sich Satz um Satz fast aufdringlich ein, und diese Aufdringlichkeit ließ erst nach, wenn der Schlusssatz erreicht war. Es herrschte in diesen Geschichten immer ein ganz ungefährdeter Verlauf. Ein durchaus sanfter Zwang, und doch ein Zwang. Es ging ja immer um das Gleiche: das Alleinsein, mein Alleinsein. Und das zu einer Zeit, in der ich so turbulent lebte wie dann nie mehr. Radio, Fernsehen, Reisen, Sitzungen, Studios. Der Betrieb legte sich wie ein Ring um mein Alleinsein. Das Alleinsein war ein reines Literaturprodukt. Ich kam direkt von Kafka. Von 1946 bis 1951 konnte ich fast nur noch Kafka lesen. Aber ich war ja schon, bevor ich Kafka für mich entdeckte, durch Literatur vor Wirklichkeit geschützt. Ich war immer ein Leser gewesen und war nirgends so daheim wie in den Büchern. Im Gefangenenlager zum Beispiel gingen die anderen, um den Proviant zu verbessern, auswärts arbeiten. Ich blieb im Inneren. Es gab nämlich Bücher. Ich entdeckte Stifter für mich. Und war im drangvoll überfüllten Lager als Stifter-Leser ganz allein.

Die Wirklichkeit ließ sich dann nicht dauerhaft draußen halten, aber am Anfang eben doch. Deshalb kommt mir jetzt diese Zeit traumhaft vor. Ich musste, was ich da schrieb, an keiner Wirklichkeit messen. Was diese Geschichten mit der Wirklichkeit zu tun hatten, konnte mir egal sein. Das unwillkürlich und sanft zwanghaft vor sich gehende Schreiben bedurfte für mich keiner Rechtfertigung. Literatur war etwas für sich. Später las ich bei Jean Paul, es sei eine zweite Welt in der hiesigen. In dieser Welt war ich zu Hause.

Diese zweite Welt gibt es wahrscheinlich nicht mehr. Wenn ich heute von Jüngsten etwas lese, sehe ich, sie sind schon ganz in der ersten Welt angekommen, in der sogenannten Wirklichkeit. Es will mir so vorkommen, als sei jene Literaturwelt, die sich ein paar Jahrhunderte entwickelt hat, jetzt nicht mehr so erlebbar, wie sie früher von jemandem, der schreiben wollte, erlebt worden ist.

Ich hoffe, dass ich mich täusche. Ich musste mir ja selber den Beweis liefern, dass mit Geschichten, die traumhaft sicher vom ersten bis zum letzten Satz liefen, kein Staat zu machen sei. Ein Roman nämlich war so nicht zu schreiben. Der Roman, hat ein berühmter englischer Romancier geschrieben, sei ein großer Spiegel, auf der Straße herumgetragen. Auch wenn es nicht so schlimm sein muss, etwas Inzüchtiges darf ein Roman nicht sein. Inzüchtig kommen mir meine Geschichten von damals vor. Sie folgen einer inzüchtigen Schwerkraft und sind am Ende froh darüber, dass sich während des Verlaufs nichts geändert hat. Das heißt: diese Geschichten bleiben am liebsten bei sich selbst. Das darf, verglichen mit später, fast paradiesisch genannt werden.

-

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })