
© Birgit Püve
Komponist Arvo Pärt wird 90: Glauben und Methode oder „Es muss Stille herrschen“
Er ist der meistaufgeführte Komponist der Gegenwart. Im Dorf Laulasmaa hat man Estlands berühmtestem Sohn einen Palast errichtet, der die religiöse Innigkeit seiner Musik spiegelt.
Stand:
Kaum eine musikalische Welt kann die Landschaft verleugnen, der sie entstammt. Das Klima, das Wetter, das Licht – alles hinterlässt seine Spuren. Musik muss dabei weder die Flüsse, Meere, Städte oder Wüsten besingen, die zu ihr gehören, noch zwingend auf Folkloristisches zurückgreifen.
Doch jeder, der in Klängen reist, weiß, was es bedeutet, wenn man sagt: Finnland gehört zu Jean Sibelius wie Ungarn zu Béla Bartók oder Amerika zu Charles Ives.
Arvo Pärts Musik wohnt außerhalb von Zeit und Raum, in einem Reich göttlicher Erfahrung, die auch den Ungläubigen anrührt. Vielleicht ist es deshalb so irritierend, dass sie seit Oktober 2018 auch ein durch und durch irdisches Zuhause hat, noch dazu eines, das ihrer Transparenz und ihrem schwebenden Charakter geradezu vollkommen entspricht.
Laulasmaa heißt das eine halbe Stunde von Estlands Hauptstadt Tallinn entfernte Dorf, in dem Pärt nach Jahren im Berliner Exil wieder eine dauerhafte Heimat gefunden hat. Es ist der Ort, an dem sein wichtigster Lehrer Heino Eller, der Vater einer ganzen Generation estnischer Komponisten, seine Sommer verbrachte.
Der estnische Staat hat Pärt hier nach Plänen der spanischen Architekten Fuensanta Nieto and Enrique Sobejano einen lichtdurchfluteten Palast aus Holz und Glas errichtet, der ihm die Anerkennung verschafft, die ihm zu sowjetischen Zeiten verwehrt blieb.
Erst machte er sich als Adept westlicher Zwölftontechnik und serieller Verfahren unbeliebt, dann, nach seiner Konversion zur russischen Orthodoxie 1972, als Christ, der sich ganz in den Dienst seines neu gewonnenen Glaubens stellte.
Lockere Kiefernwälder, durch die auch in der frostigen Jahreszeit manchmal die Sonne zwinkert. Ein Turm über den Wipfeln, von dem aus man die Ostsee sieht, die sich um die Halbinsel herum erstreckt. Ein Konzertsaal aus Eichenholz für 150 Menschen, in dem man eine Feder fallen hören würde. Ein Café, eine Bibliothek mit den Beständen des passionierten Lesers, ein Archiv mit sämtlichen Partituren und den Schätzen der musikalischen Notizbücher.
Kloster für den Heiligen Siluan
Dazu Seminarräume und Wohnungen für Stipendiaten, ein Lichthof mit drei schädelgroßen Glocken an einem Gestell, nicht zu vergessen der Klosterraum mit Fresken des Heiligen Siluan von Athos, einem russischen Bauernsohn, der 1892 in das Panteleimonkloster der griechischen Mönchsrepublik eintrat, und dessen Biografen, dem späteren Mitbruder Sophroni Sacharow, der 1959 in der englischen Grafschaft Essex ein Kloster gründete.
Kein einziger Ton müsste erklungen sein, um auf dem Gelände des Arvo Pärt Centre jene innere Ruhe und jenen still jubilierenden Ernst zu empfinden, die seit dem langen Abschied des Komponisten von modernistischen Techniken und der Wiedergeburt mit der sogenannten Tintinnabuli-Methode seine Stücke prägt.
Welche Komplexität Pärt sich seit der zweistimmigen Klavierminiatur „Für Alina“, dem ersten Stück im „Glöckchen“-Stil aus dem Jahr 1976, erarbeitet hat, zeigt nicht nur der Vergleich mit dem vierstimmigen A-cappella-Satz „And I heard a voice …“ (Ja ma kuulsin hääle …) von 2018. Es ist das Titelstück der jüngsten, vom Kammerchor Vox Clamantis unter Jaan-Eik Tulve mustergültig interpretierten ECM-Einspielung.
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Diese einzige Vertonung eines Bibeltexts in Pärts Muttersprache – alle anderen benutzen das Lateinische, Deutsche oder Englische – befindet sich in bester Gesellschaft mit den fast 30 Jahre älteren sieben Magnificat-Antiphonen: Jedes einzelne von ihnen bildet trotz strenger Befolgung der Tintinnabuli-Regeln einen eigenen Charakter.
Durchgehende Langsamkeit
Kein ernsthafter Musiker könnte den Vorwurf von Uniformität erheben, und die Stapel von Büchern, die Pärts Stil im Sakralen wie im Weltlichen analysieren, darunter eine Monografie seines herausragenden Interpreten Paul Hillier, entkräften ihn sofort.
Die melodischen Phrasen, deren Länge von der Silbenzahl der meist liturgischen Texte definiert wird, die harmonischen Reibungen innerhalb der Konsonanz, die Vielzahl symmetrischer Gestalten, die durchgehende Langsamkeit, die dennoch verschiedene Zeitmaße enthält: All das zeugt von einer erstaunlichen Diversität und einer Unerschöpflichkeit der Methode.
Auch die Herabwürdigung zur bloßen Klangtapete im Fernsehen, wie sie etwa „Fratres“ (1977), einem instrumentalen Schlüsselwerk in Gidon Kremers Einspielung widerfuhr, hat sie nicht beschädigen können.
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Die grundsätzliche Baukastenlogik dieser Musik hat sie indes zu einer Art Puzzlespiel für Kompositionsklassen gemacht. Pärts Stücke nehmen ihren Ausgang mit einer überschaubaren Skala, aus der er eine Melodiestimme generiert.
Zu ihr gesellt sich die Tintinnabuli-Stimme, die aus den Bestandteilen der zugehörigen Dur- oder Molldreiklänge (auch in den Umkehrungen) besteht und die Melodie mit dem nächsttieferen oder nächsthöheren, oft auch oktavierten Ton ergänzt. Der englische Komponist Milton Mermikides hat mit der Software Ableton sogar einen automatischen Tintinnabulator erstellt.
Freiheit durch Zwänge
Die Formelhaftigkeit dieser Musik – Pärt hat selbst von einem mathematischen Vorgehen gesprochen – bildet aber auch die Voraussetzung einer Freiheit, die er höchst produktiv zu nutzen weiß. In ihrer asketischen Rationalität bewegen sich seine Stücke zwischen der Schlichtheit früher, aus der Gregorianik hervorgegangener Vokalpolyphonie und den ungleich elaborierteren Architekturen eines Johann Sebastian Bach.
Ihr nüchterner Strukturalismus enthält jedenfalls schon zugleich sein Gegenteil: So wenig Pärts Musik Ausdruck persönlicher Befindlichkeiten ist, sosehr spiegelt sie menschliche Urzustände wie Not, Trauer und Angst.
Gesundheitlich ist Arvo Pärt seit einer Weile schwer angeschlagen, und es ist mehr als zweifelhaft, ob er zu seinem 90. Geburtstag am 11. September noch einmal öffentlich in Erscheinung tritt. Wenn man den Meister in Laulasmaa hin und wieder doch durch das Centre huschen zu sehen meint, ist es allerdings keine Halluzination.
Sein Sohn Michael führt die Geschäfte
Es ist sein Sohn Michael, ein jüngeres Ebenbild des Vaters. Er führt die Geschäfte des Arvo Pärt Council, das über die Einnahmen wacht, die den laufenden Betrieb aus Stiftungsgeldern und privaten Spenden aufrechterhalten.
Er nahm 2023 in Stockholm auch den Polar Music Prize aus der Hand des schwedischen Königs entgegen, nicht ohne in seiner Dankesrede vor allem den Vater zu zitieren: „Es ist immer eine schöne Zeit, wenn man völlig ratlos ist, wenn man sich mit fast nichts zurechtfinden muss. Zunächst einmal muss man sich selbst zu nichts machen. Es muss Stille herrschen. Man muss Frieden mit seiner Ohnmacht schließen. Was einem dann gegeben wird, ist wie ein Geschenk.“
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