Kultur: Gott ist ein Voyeur
„Vater unser“: Der Wiener Filmregisseur Ulrich Seidl gibt an der Volksbühne sein Theaterdebüt
Oft können die Menschen nicht mehr schlafen in den Filmen des Österreichers Ulrich Seidl. Sie wachen nachts auf, laufen unruhig durch die Wohnung und warten auf den Sonnenaufgang. Sie haben Angst. Angst davor, immer allein sein zu müssen. Immer auf der Suche nach so etwas wie Liebe zu sein und doch schon damit abgeschlossen zu haben. Seidls Menschen haben eigenartige Spleens entwickelt, Methoden, um irgendwie zurechtzukommen.
Nun wird Ulrich Seidl, eigentlich Dokumentarfilmer, sein erstes Theaterstück „Vater unser“ an der Volksbühne in Berlin inszenieren (Uraufführung am Mittwoch). Bert Neumann, Bühnenbildner und Ideenarchitekt der Volksbühne hatte Seidls Film „Hundstage“ gesehen und war wie elektrisiert. Zwischen der Ästhetik des Filmemachers und der Volksbühne gäbe es eine „Familienverwandtschaft“, erklärte er. Neumann baute für Seidls Stück einen Andachtsraum wie auf einem Flughafen auf die Bühne. Und Seidl bekam ein Angebot, so sagt er im Gespräch, wie er es sich einmal von einem Filmproduzenten wünschen würde: hier der Vertrag, der Premierentermin, ansonsten absolute Freiheit. Ein Angebot, das Seidl nicht abschlagen konnte, obwohl er lange gezögert habe. „Hauptsächlich aus Achtung vor dem Metier“, räsoniert Seidl in seinem freundlichen, wienerischen Tonfall. Er sitzt auf einer sonnigen Fensterbank in der Volksbühne. Früher habe er mal Theaterwissenschaften studiert, aber es sei ein Alibistudium gewesen. Normalerweise langweile ihn Theater. „Die Volksbühne natürlich nicht“, fügt er dann noch hinzu.
Sein bekanntester Film „Hundstage“ gewann 2001 bei den Filmfestspielen von Venedig den Silbernen Bären. Seidl nannte den dokumentarisch inszenierten Film einen Spielfilm und zeigte damit, wie absurd die Diskussionen waren, die seine früheren Filme öfter begleiteten. Immer wieder die Frage: Wieviel ist Inszenierung und wieviel ist echt? Darf man dazu noch Dokumentarfilm sagen? Als ob das eine Rolle spielen würde, wenn am Ende grauslige Wahrheit steht. In einer überhitzten Vorstadt-Siedlung in Wien, die Häuer akkurat in Reih und Glied, quälen sich die Menschen gegenseitig, demütigen sich und lassen sich demütigen, um das Gefühl der Einsamkeit für kurze Zeit zu vergessen. An diesen heißesten Tagen im Jahr, den Hundstagen, suppen die Gedanken. Die Menschen sind hilflos. Seidl hat nur gedreht, wenn der Himmel wolkenlos war. Er hat die Vorgärten der Häuser herrichten lassen, damit dieser flimmernde, abweisende Eindruck entsteht. Sein Gesellschaftsbild: Der Mensch schaffe sich die Hölle selbst, in der er lebt, erklärt Seidl schulterzuckend und lächelt dabei süffisant. Immer wieder wird ihm vorgeworfen, er sei ein Sozialvoyeur, der keine Schamgrenzen kennt. Der das Intimste des Menschen an die Oberfläche zerrt, entblößt und verletzt. Seidl selbst kann diesen Vorwurf nicht verstehen. Apriori gibt es für ihn keine Grenzen. Er arbeitet auf den Punkt hin, an dem der Zuschauer davonlaufen möchte, es aber noch nicht tut. Denn: Ihn treibe die Suche nach einem würdigeren Leben – und die Neugier.
Und so sind Seidls Filme stellenweise komische, immer aber auch schockierende Portraits trister Leben. Drei seiner Dokumentarfilme konnte man am vergangenen Freitag in der Volksbühne sehen. In „Der Busenexperte“ (1997) ist der 50 Jahre alte Mathematiklehrer Rene Rupnik besessen von Senta Berger – für ihn einzige Frau in seinem Leben außer seiner greisen Mutter, mit der er zusammenwohnt. Am liebsten spricht er über den Busen, angeblich das „Sein oder Nicht-Sein“ einer Frau. Seine Wohnung ist eine Ansammlung von Müll. Er sammelt alte Zeitungen, stapelt sie von links nach rechts und wieder zurück. Er ist vor allem einsam. In „Spaß ohne Grenzen“ von 1998 führt die „Weltmeisterin im Besuchen von Freizeitparks“ durch den Europa-Park in Rust bei Freiburg. Dort findet sie kurze Zeit Frieden vor den Erinnerungen an ihre schlimme Kindheit. „Die Zeit müsste stehen bleiben und ich möchte glücklich sein dürfen“, sagt sie einmal. Auf einmal kann man nicht mehr über ihr skurriles Hobby lachen, über ihre Infantilität, ihre naive Freude, wenn ihr die Parkangestellten in ihren Tierkostümen zuwinken.
In seiner ersten Theaterarbeit „Vater unser“ ist das zentrale Thema das Gebet zu Gott. Für Seidl der intimste Akt des Menschen, intimer noch als Sex, also ein ideales Seidl-Thema: Dokumentation der letzten Zuflucht des Menschen. Es werde Ähnlichkeiten geben zu seinem Film „Jesus, du weißt“, der demnächst in die Kinos kommen wird, erklärt Seidl. Er selbst, geboren 1952 in Wien, sei nicht gläubig, sondern ein Gottsuchender. „Ich kann nicht mit ihm, aber auch nicht gegen ihn.“
Seidl wuchs in einem streng katholischen Elternhaus auf, Sonntagsmesse, Ministrantendienst, in der Jugend dann die Phase der Rebellion, Ablehnung der Autoritäten: Kirche und Gott, Familie und Staat. In „Jesus, du weißt“ fotografierte er sechs Menschen im Gespräch mit Gott. Ein Student beichtet Jesus, dass er beim Lesen der Bibel erotische Fantasien habe. Sein schlechtes Gewissen wiegt Tonnen. Eine pensionierte Chemie-Lehrerin will sich an ihrem untreuen Ehemann rächen. Impliziert ist in allen Gesprächen: Herr, warum hast du mir das angetan?
An der Volksbühne erarbeitet Seidl das Thema Gebet mit Schauspielern wie Herbert Fritsch, Bernhard Schütz und – erstmals im Hause Castorf – Regine Zimmermann. Für seine Filme bevorzugt er Laien, weil diese aus echten Erfahrungen schöpfen und als Darsteller hinter der Wirklichkeit verschwinden können. Die Arbeit an „Vater unser“ begann mit Hunderten Interviews mit Gläubigen, auf Video aufgezeichnet als Anschauungsmaterial für die Schauspieler. Daraus kristallisieren sie ihre Rollen, bringen Persönliches mit ein: Eine fiktive Quintessenz des Glaubens soll entstehen. Es reize ihn, sagt Seidl, dieses Thema auf diese atheistische Bühne zu stellen – im gottlosen Berlin. Ob er wohl Castorfs endlose Dostojewski-Litaneien als blasphemisch empfindet?
Karl Hafner