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Kultur: Heilige Herberge

Die begehbare Installation „You are here“ von Dries Verhoeven im Gasometer Schöneberg

In Zimmer 3 ist nicht viel Platz, nur ein einfaches Klappbett, dünne Holzwände, eine gedimmte Leuchtröhre. Man hat mit all den anderen Gästen seine Tasche und Schuhe an der Rezeption abgeben müssen und ist die verschachtelten, dunklen Korridore dieses Hotels entlanggeirrt auf der Suche nach dem richtigen Raum. Und nun sitzt man hier. Wartet. Draußen tobt an diesem Tag ein Gewitter, aus einer Art Lüftung über dem Kopfende rieselt Beruhigungspop. Man ist allein und weiß, den anderen, gleich nebenan, geht es genauso. Ein Fragebogen wird unter der Tür durchgeschoben. Das Check-in-Formular, nur dass darauf nicht nach Name und Anschrift gefragt wird, sondern, was man geträumt hat letzte Nacht. Woran es einem fehlt. Woran man sich gerne erinnert. Schließlich kommt ein Zettel. „Danke fürs Ausfüllen“, steht darauf, „du kannst dich hinlegen.“

Der niederländische Theatermacher Dries Verhoeven liebt das Spiel mit Fremdheit und Nähe, mit Anonymität und Berührung. Zuletzt war in Berlin seine Performance „Niemandsland“ zu erleben, da folgte man Menschen verschiedener Herkunft durch die Straßen, während über Kopfhörer die Lebensgeschichte des unbekannten Stadtführers erzählt wurde. Ob wahr oder erdichtet, blieb in der Schwebe. Jetzt hat das HAU Verhoeven eingeladen, seine Hotel-Installation „You are here“ in Berlin aufzubauen. Das HAU hat einen reizvollen Spielort aufgetan, das Gasometer in Schöneberg, diesen imposanten, denkmalgeschützten Industriebau aus dem frühen vergangenen Jahrhundert. Hier wurde bis zur Stilllegung in den 90ern das Stadtgas gespeichert.

Die Decke des Hotels ist ein Spiegel, der Regisseur lässt sie so anheben, langsam immer höher, dass man bald auf die Gesamtheit der Räume und Gänge blickt. Wie ein Setzkasten mit Menschen darin sieht das aus, ein Bild von Masseneinsamkeit in Wohnwaben. 40 Zimmer, 40 Mal Leben. Derweil dichtet eine von Verhoevens Spielerinnen aus dem Fragebogenmaterial eine melancholische Alltagspoesie, die das Motiv aufnimmt, nur 80 Zentimeter vom andern entfernt zu sein und doch nichts übereinander zu wissen. „Ich weiß, dass dein Tag um 7.40 Uhr beginnt, aber ich weiß nicht, ob du auf der Seite schläfst oder auf dem Rücken. Du ziehst Jeans an, ein graues T-Shirt, aber ich weiß nicht, wie du nackt aussiehst.“

Das Hotel als Ort des Unbehausten und des Transits ist beliebt bei Performancekünstlern. Verhoeven setzt weniger auf Aktion als auf die Eindringlichkeit von Atmosphäre und Erleben. Es wird ihm immer wieder vorgeworfen, seine Aktionen seien nicht gerade eine intellektuelle Herausforderung. Aber wenn man sich auf dieses Theater der unmittelbaren Erfahrung einlässt, entwickelt es eine ganz eigene Dynamik und eine feine, leise Ironie. Da wird aus dem Hotel Angst die Herberge zur heiligen Sehnsucht.

Die Spieler kommen ins Zimmer und decken ihre Gäste zu. Sie entführen sie auf eine Taschenlampen-Prozession durch die dunklen Flure, eine Tasse Zucker in der Hand, in Holland ein Geschenk unter guten Nachbarn. Und am Ende schenken sie allen ein Nachtlicht. Fürchtet euch nicht. Patrick Wildermann

Bis 2. Juni, immer 19, 21 und 23 Uhr, Gasometer Schöneberg, Torgauer Str. 12–15

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