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Anachronistische Helden. Szene aus Quentin Tarantinos Spätwestern „The Hateful Eight“.

© Mauritius/Alamy Stock Photo

Neuer Roman von Donald Ray Pollock: Helden des Volkes und der Klatschpresse

Großes amerikanisches Epos: In Donald Ray Pollocks „Die himmlische Tafel“ durchquert eine kriminelle Brüder-Bande im Jahr 1917 das Land.

Es war einmal in Amerika. Drei Tage lang hat sich die Jewett-Bande vor einer Gruppe von Kopfgeldjägern versteckt. Jetzt brauchen sie Lebensmittel. Also reiten sie in das kleine Dorf, das sie eine Stunde lang aus einem trockenen Bachlauf beobachtet haben, und nähern sich dem Gemischtwarenladen.

Cane, der älteste Bruder, versucht Chimney für den Einkauf Geld zu geben, das sie aus ihren Banküberfällen haben. „Shit, das brauch ich doch nicht“, sagt er und klopft auf den Revolver an seiner Hüfte. Der Raubzug wird zu einem mittleren Desaster, weil der Verkäufer zurückschießt und Cob im Oberschenkel trifft. Cob, der mittlere Jewett-Bruder ist ein wenig zurückgeblieben und für einen Gesetzlosen eigentlich nicht schlau genug.

Man könnte Donald Ray Pollocks großes amerikanisches Epos „Die himmlische Tafel“ für einen Western halten. Es gibt Szenen wie aus einem Tarantino-Film, den Showdown an einem einsamen Holzhaus in der Wüste etwa. Aber der Roman spielt 1917, als der Westen bereits aufgehört hat, wild zu sein, und Outlaws in Cowboykluft anachronistische, fast lächerliche Figuren geworden sind. Der Vater der Jewetts glaubte auserwählt zu sein, weil er arm war, und ließ seine Kinder hungern. Als er am Fleisch eines kranken Schweins stirbt, brechen sie auf in die Freiheit. Ihre Überfälle sind pure Notwehr. Sie wollen in dem Abenteuer leben, das sie aus dem Groschenroman „Das Leben von Bloody Bill Bucket“ kennen.

Sie werden zu Helden des Volkes und der Klatschpresse

Die USA sind gerade in den Ersten Weltkrieg eingetreten, die Militärmaschinerie läuft langsam an. Überall zeigt sich der Fortschritt. Pferde werden durch Automobile wie das Ford Model T, genannt Tin Lizzy, überflüssig. Wassertoiletten verdrängen Plumpsklos. Ein Vortragsreisender prophezeit, dass in hundert Jahren Schreibmaschinen die Handschrift ersetzt haben werden. Der Jewett-Bande reist ihr eigener Ruhm hinterher, manchmal auch voraus. Sie werden zu Helden des Volkes und der Klatschpresse, man hält sie dank einer angeblichen Verbindung mit einer Voodoo-Priesterin für unbesiegbar. Der Playboy Reese Montgomery jagt sie mit einem Flugzeug, einem deutschen Fokker Zweisitzer. Die Brüder holen ihn vom Himmel.

Donald Ray Pollock hat schon im Erzählband „Knockemstiff“ und dem hartgesottenen Thriller „Das Handwerk des Teufels“ Mikro-Narrationen kunstvoll zu einer stringenten, vorwärtsdrängenden Geschichte verwoben. Auch in der „Himmlischen Tafel“ tauchen immer wieder Nebenfiguren auf, deren Lebensläufe ein eigener Roman sein könnten. Jasper Cole, als Sanitärinspekteur für die Toiletten in der Stadt Meade zuständig, leidet an seinen Genitalien, wohl den größten Amerikas. Lieutenant Bovard erlebt sein Coming-out ausgerechnet im Army-Camp und wird in den Folterkeller der Absturzkneipe „Blind Owl“ verschleppt. Dessen Inhaber „glaubte an Lebensmittelkonserven und spielte mit dem Gedanken, einen Menschen einzudosen“.

Historie, Melodram und Krimi in einem

Schon die Ortsbezeichnung Knockemstiff klingt wie erfunden, doch Pollock ist tatsächlich 1954 in einem Kaff in Ohio geboren, das so heißt. Im neuen Roman kommt Knockemstiff wieder vor, als Whiskymarke. Auch die in den ersten beiden Büchern eingeführte Papierfabrik fehlt nicht, noch nicht ganz so heruntergekommen. „Die himmlische Tafel“ ist Historie, Melodram und Krimi in einem, ein Höllenritt durch ein groteskes, zutiefst rassistisches und ratloses Land, der überaus aktuell wirkt.

Es steckt voller biblischer, pop- und hochkultureller Verweise. Das Finale ähnelt Shakespeares Königsdrama „Richard III.“. Und bei der „himmlischen Tafel“ handelt es sich um einen transzendenten Ort, den mit üppigen Speisen bedeckten Tisch, an dem gute Christen nach ihrem Tod beköstigt werden. Wem es auf Erden gut geht, hat keine Chance, an der Tafel zu sitzen. Das hat ein Bettelprediger dem Vater der Jewett-Brüder erzählt. Der Prediger folgte einem kleinen weißen Vogel, der ihm den Weg wies. Der Vogel ist unsterblich und taucht später im Buch noch einmal auf, mit einem neuen Begleiter.

Die Erzählstränge bewegen sich aus Georgia und Ohio aufeinander zu

Vieles in diesem brutal realistischen, hochkomischen Buch wirkt unglaublich. Die Grenzen zwischen Märchen, Legende und Wirklichkeit verschwimmen. Die Erzählstränge bewegen sich aus Georgia und Ohio aufeinander zu, zunächst langsam und abschweifend. Ellsworth Fiddler, ein Farmer aus dem Mittleren Westen, der von einem Trickbetrüger im karierten Jackett ums Ersparte gebracht wurde, weiß weder, worum es in dem Krieg geht, in den sein Land ziehen will, noch, wo er überhaupt geführt wird. Menschen leben von dünnen Maisfladen, manchmal auch von Steppengras. Die Zähne reinigen sie mit einem Glockenblumenblatt. Eine Schauerfantasie? Nein, so hat der Alltag für die Armen vor hundert Jahren in Amerika wohl ausgesehen.

Donald Ray Pollock: Die himmlische Tafel. Roman. Aus dem Englischen von Peter Torberg. 432 S., 20 €. Liebeskind Verlag, München 2016

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