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Nibelheim als Kinderheim. Mime (Arnold Bezuyen mit Schülerstatisten) schuftet nicht in Alberichs Fabrik, sondern betreut die entführten Sprösslinge des Wälshungen-Clans.

© dpa/Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath

Bayreuther "Ring"-Auftakt mit "Rheingold": Hilfe, die Kinder wurden entführt!

Als Familiensaga legt Valentin Schwarz den neuen Bayreuther "Ring" an, mit einer unverbesserlichen Eltern-Generation und geraubten, traumatisierten Sprösslingen.

Pack schlägt sich, Pack verträgt sich – eben nicht. Dass der junge Regisseur Valentin Schwarz den neuen, wegen Corona zweimal verschobenen „Ring des Nibelungen“ in Bayreuth als Familiensaga anlegt, wird schon mit den ersten Takten des „Rheingold“-Vorabends überdeutlich. Noch bevor aus den Tiefen des Orchestergrabens das sub-kontra-tiefe Es der Kontrabässe anhebt, dieser Urschlund aller „Ring“-Motive und all der Lichtalben- und Schwarzalben-Gestalten in Wagners Tetralogie, geht der Vorhang auf und man erblickt – ja was? Eine DNA-Doppelhelix? Korallen am Rheingrund, dort, wo auch dieser verfluchte Goldschatz liegt?

Nein, eine Nabelschnur ist auf dem XXL-Video zu sehen, oder genauer: zwei. Zwillinge im Mutterleib tauchen auf, während allmählich die von Cornelius Meister am Pult recht nüchtern konturierten Wagnerschen Wellenklänge anbranden, mit förmlich ausbuchstabierten Dreiklangsbrechungen. Auch die Zwillings- Föten sehen eher nach Computersimulation aus denn nach Videokunst. Sanft trudeln sie umeinander, aber schon bald wird getreten und geboxt. Gewalt, pränatal.

Bruderkrieg, Brudermord: Wie eine Netflix-Serie will Valentin Schwarz den Zyklus verstanden wissen – die Ankündigung hatte für Verstimmung bei Wagner-Fans gesorgt. Dabei ging es ihm nur um das Spannungsmoment, den Suchtfaktor.

Dass er die Hauptkontrahenten, den Göttervater Wotan und den liebes- wie machtgierigen Unterweltler Alberich, im „Pilotfilm“ als Zwillingsbrüder deutet – und den Rheingold-Raub als Rache des Zukurzgekommenen –, erfährt das Publikum am schnellsten, wenn es vom QR-Code im Programmheft Gebrauch macht und der Audiodatei mit dem von Jens Harzer vorgetragenen Anfang der Schwarzschen „Ring“-Erzählung lauscht.

Wobei das Bruder-Motiv durchaus von Wagner selbst stammt, knechtet doch Alberich seinen Zwergenbruder Mime, und der Riese Fafner erschlägt Bruder Fasolt.

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Der Clou des 33-jährigen Österreichers, der erstmals Wagner inszeniert: Kein Goldschatz wird von Alberich geraubt, als die Rheintöchter ihn demütigen – hier sind's Kindermädchen am Pool des Wotan-Anwesens –, sondern die Jugend. Die Zukunft der Dynastie in Gestalt einer Kinderschar vergnügt sich ebenfalls am Pool. Hier geht es nicht um Kapitalismus, Materialismus und Profitgier wie in Patrice Chereaus „Jahrhundertring“ oder zuletzt bei Frank Castorf, sondern um familiäre Traumata, um Clinch und Kriege in der weitverzweigten Wälsungen-Sippe.

Hilfe, der Zwerg hat die Kinder entführt: Die Hauptgeisel, ein Junge mit Basecap (Kostüme: Andy Besuch), erweist sich als seinerseits bereits traumatisiert, so wie er mobbt und zuschlägt. Kinder, schafft Neues! Nein, setzt Schwarz entgegen: Kinder schaffen nichts Neues, sie setzen die alten Muster fort.

Olafur Sigurdarson als ausdrucksstarker Alberich erntet am ersten "Ring"-Abend in Bayreuth den meisten Applaus.
Olafur Sigurdarson als ausdrucksstarker Alberich erntet am ersten "Ring"-Abend in Bayreuth den meisten Applaus.

© dpa/Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath

Seitdem wird in Bayreuth gerätselt: Handelt es sich bei dem Jungen um Klein-Hagen, Alberichs Sohn, der später den Siegfried morden wird? Aber wieso entführt der Zwerg den eigenen Spross? Ist’s vielleicht eher Klein- Siegfried, der gemeinsam mit den ebenfalls entführten blondbezopften Mädchen (die noch kindlichen Walküren?) von Mime betreut wird? Das entspräche zwar nicht der Chronologie der Ereignisse, aber insofern Wagners Libretto, als Mime den Hoffnungshelden in „Siegfried“, Teil 3 des Zyklus, ja tatsächlich großzieht.

Egal, seit wann geht es in Familienserien (chrono-)logisch zu? Das größere Problem besteht darin, dass Schwarz’ Psychothriller so wenig mit Wagners Musik zu tun hat. Die läuft eher nebenher. Das Festspielorchester unter dem Dirigat des für den erkrankten Pietari Inkinen eingesprungenen Cornelius Meister klingt gedeckelt, mit plakativen Actionmomenten, aber ohne zauberische Mischklänge, mit geringem Farb- und Lautstärkespektrum.

Fabriklärm in Nibelheim? Diesmal ist's nur Besteckgeklapper

Selbst die Action kommt harmlos daher: Wagner vertonte ja förmlich die frühindustriellen Epoche, wenn in der Fabrik Nibelheim geschmiedet und malocht wird. Hier ist's nur Besteck-Geklapper der entführten Kids im Hort – ein läppischer Sound im Vergleich zu Wagners radikalem Realismus.

Im zweiten Aufzug versammelt sich der Wotan-Clan in seiner Bungalow-Wohnlandschaft (Bühne: Andrea Cozzi), als der lackaffig-kapriziöse Familienanwalt Loge (Daniel Kirch, mit Lust an der Karikatur) im Salon auftaucht, um die Bezahlung der Erweiterungsbau-Architekten Fafner und Fasolt (routiniert: Wilhelm Schwinghammer, Jens-Erik Aasbø) zu regeln. Hier stehen die Protagonisten eher auf der Bühne herum, als dass ein sinnfälliges Beziehungsgeflecht entsteht. Wotan (statuarisch: Egils Silins) tritt im Golfdress auf. Donner (Raimund Nolte) schwingt statt Hammer den Golfschläger, was ihm einen Hexenschuss und dem Abend einige Lacher beschert.

Fricka (Christa Mayer) und Freia (Elisabeth Teige) schlürfen Espresso auf dem Sofa, Erda ist irgendwie von Anfang an dabei.

Walhall ist in Valentin Schwarz' "Rheingold"-Inszenierung kein Prachtbau, sondern nur eine Designerlampe. Szene mit Elisabeth Teige (Freia, l.), Attilio Glaser (Froh) und Christa Mayer (Fricka)
Walhall ist in Valentin Schwarz' "Rheingold"-Inszenierung kein Prachtbau, sondern nur eine Designerlampe. Szene mit Elisabeth Teige (Freia, l.), Attilio Glaser (Froh) und Christa Mayer (Fricka)

© dpa/Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath

Es ist der Auftritt Okka von Dameraus als Urmutter, der das Salon-Parlando plötzlich hinwegfegt, welches sich selbst zur sehrenden Walhall-Musik am Ende wieder einstellt (die Götterburg ist nichts weiter als eine simple Designer-Lampe). Eine Sängerin mit nuancenreicher Stimmgewalt, eine Frau mit natürlicher, furioser Autorität warnt die Upperclass vor dem Untergang, gebietet der Sorglosigkeit Einhalt. Einer der starken Momente des Abends. Die anderen verdanken sich Olafur Sigurdarsons Alberich, dessen schauspielerische wie stimmliche Ausdrucksintensität zu Recht den meisten Applaus erntet, gefolgt von Christa Mayers Wotan-Gattin, die ebenfalls eindringlich mahnt, aber auch subtile Töne anschlägt. Kein Typus ist diese Fricka, sondern ein Mensch, verletzt, wütend, aufbegehrend.

Warum Wagners Nibelungen-Tetralogie nicht in die "Fridays for Future"-Gegenwart hineinblenden?

Im Online-Magazin „Van“ forderte der langjährige „Opernwelt“-Redakteur Albrecht Thiemann kürzlich ein „Ring“-Moratorium, eine Denkpause für vielleicht zehn Jahre. 900 „Ring“-Abende seit 1896 alleine auf dem Grünen Hügel, aktuell knapp 30 Inszenierungen weltweit, jede Note, jede Szene, jede Figur sei ausgekundschaftet.

Nun trifft es zwar zu, dass Bayreuth längst nicht mehr das ästhetische Wagner-Maß aller Dinge ist, und vorerst sieht es nicht so aus, als ob sich das dieses Jahr ändert. Auch wenn sich das Publikum im rappelvollen Festspielhaus begeistert zeigt, von wenigen Buhs abgesehen – im Getrappel bricht sich auch die Dankbarkeit Bahn, dass Bayreuth überhaupt wieder ohne Einschränkungen stattfindet. Aber der 15-Stunden-Zyklus, komplett ausgekundschaftet? Warum nicht die Generationenfrage stellen und die Tetralogie in die Gegenwart von Klimakrise und „Fridays for Future“ hineinblenden?

Wie das wohl wird, wenn der nächste Abend des "Bühnenfestspiels" an der Weltesche beginnt, jenem versehrten, dahinsiechenden Baum? Was ist, wenn die Kinder groß sind, die verratene, um ihre Kindheit betrogene, womöglich letzte Generation? Die zweite, von Martina Gedeck eingelesene Audiodatei der „Ring“-Erzählung wird erst freigeschaltet, wenn sich an diesem Montag der Vorhang zur „Walküre“ hebt. So ist das mit Serien: Man möchte schon wissen, wie’s weitergeht.

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