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Klassik: Himmelsklang und Vogelsang

Aufstieg ins Akkordgebirge: Vor 100 Jahren wurde der französische Komponist Olivier Messiaen geboren

Von Gregor Dotzauer

Irgendwann, wenn niemand mehr versteht, was das Wort Transzendenz bedeutet, und kein Gott den Finger rührt, um noch einmal den Himmel aufzureißen, würde es genügen, sich an die Musik von Olivier Messiaen zu erinnern. Mit dem Schlag eines Tamtams oder zwischen den Registern einer voix céleste und einer unda maris, wie man sie auf der Orgel von Sainte-Trinité in Paris findet, wo Messiaen von 1931 bis zu seinem Tod 1992 die Stelle als Titularorganist innehatte, könnte sich das Bewusstsein weiten – bis an den Punkt, an dem alles Persönliche von einem abfällt und etwas Überpersönliches von einem Besitz ergreift.

Man müsste nicht nur unmusikalisch, man müsste in jeder Hinsicht stumpfsinnig sein, um sich etwa von den zehn Minuten des „Dieu parmi nous“, das den 1935 entstandenen Orgelzyklus „La Nativité du Seigneur“ beschließt, nicht bewegen, beglücken, ja verwandeln zu lassen. Die Innigkeit, mit der dieses Stück ins Kirchenschiff schwebt, und die Macht, mit der es gleich darauf alles Verhaltene zum Lob des Herrn und seiner Herrlichkeit hinwegfegt, bis nur noch ein Nachhall die Luft durchzittert, der sich tief ins Körperinnere einsenkt – sie vermitteln auch dem Ungläubigsten eine Ahnung davon, was Glaubensgewissheit ist.

So konnte nur ein Katholik komponieren: mit der ganzen Demut eines Menschen, der sich in den Dienst einer Sache gestellt hat, die ihn in ihrer Unendlichkeit übersteigt, und mit der Anmaßung desjenigen, der etwas Universales behauptet, das doch bis ins letzte kulturell durchformt ist. Was er, indem er die Dreifaltigkeit, die Himmelfahrt oder die Auferstehung der Toten wörtlich zu nehmen schien, nicht einmal verbergen wollte. Erst in seiner Musik gewann es wieder etwas Metaphorisches: als ein notwendiges Reden in Bildern und daraus destilliertem Klang, der dem Absoluten konkrete Gestalt und Struktur gab.

Messiaens Kompositionen, die heute zum festen Repertoire des Konzertbetriebs gehören, entwerfen ein Universum der Ähnlichkeiten, in dem Zeit und Raum einander spiegeln. Mikro- und Makrowelten gehorchen denselben Gesetzen, und die Zeit der Gestirne trifft auf die Zeit der Atome. Musik bestand für ihn weniger aus Tönen als aus konkurrierenden Ordnungen: aus der Dynamik von Intensitäten und Dichtegraden, wie er in seinem berühmten Vortrag auf der Brüsseler Weltausstellung 1958 erklärte, ihrer sich aus Timbres und Spielweisen ergebenden Lautlichkeit, ihrem verschiedene Tempi einschlagenden Bewegungssinn und ihrer Grundarithmetik. „Vergessen wir nicht“, sagte Messiaen damals, „dass das erste und wesentliche Element der Musik der Rhythmus ist, und Rhythmus bedeutet zunächst Wechsel von Zahl und Dauer. Stellen wir uns einen einzigen Schlag im ganzen Universum vor. Einen Schlag – Ewigkeit vorher, Ewigkeit nachher: Das ist die Geburt der Zeit. Stellen wir uns einen zweiten Schlag vor, fast sofort danach. Da jeder Schlag sich um die Stille verlängert, die ihm folgt, wird der zweite Schlag länger als der erste sein. Andere Zahl, andere Dauer: Das ist die Geburt des Rhythmus.“

Es mag sein, dass einem die Spannung zwischen Messiaens hochreflektiertem Komponieren und dem unmittelbar zu Empfindenden beim Hören nirgends eindrucksvoller aufgeht als bei seiner Orgelmusik, wo man, umfangen vom Weihrauch eines sakralen Ortes, vielleicht tatsächlich zu erhabeneren Gefühlen neigt als im Konzertsaal. Wo sonst könnte man so tief in die zerklüfteten, tropfsteinhöhlenartigen Klangräume eindringen, in denen die Zeit stehen geblieben zu sein scheint, und so fassungslos vor den Akkordgebirgen aufschauen, die vor einem aufragen. Aber man würde sich täuschen, wenn man glaubte, dass man diese Landschaften nicht auch mit anderen Instrumenten durchwandern könnte.

Die Nacktheit eines einzigen Klaviers reicht aus, um den gleichen Effekt zu erzielen. Die „Vingt Regards sur l’Enfant-Jésus“ (1944), ein zweistündiges Gipfelwerk in der Pianomusik des 20. Jahrhunderts, führen Zuhörer, Instrument und Interpreten in ganz ähnliche Gebiete. Vielleicht ist es überhaupt ein Messiaen’sches Charakteristikum, Klangkörper an den Rand ihrer Möglichkeiten zu bringen. Es zeigt sich in der über 100-köpfigen Besetzung für die „Turangalîla-Symphonie“ (1949) wie in der perkussiven Verausgabung bei dem Kriegsrequiem „Et exspecto resurrectionem mortuorum“ (1964). Wer nie gehört hat, wie der dritte Satz, in dem die Toten Jesu Stimme vernehmen, auf zwei riesigen, gleichmäßig geschlagenen Metallgongs zu einem magen- und ohrenbetäubenden Ende gedroschen wird, der weiß nicht, zu welchem Krach Orchester in der Lage sind.

All dies ist Teil einer idiomatischen Rede, die Messiaen in seinem Buch „Technik meiner musikalischen Sprache“ bis zur Zeit des im Görlitzer Kriegsgefangenenlager entstandenen „Quatuor pour la fin du Temps“ offengelegt und damit im Grunde zur Nachahmung freigegeben hat. Epigonen haben sich, von Ausnahmen abgesehen, die meistens ein harmonisches Design borgen, allerdings kaum eingefunden. Denn Messiaen ist, so genau man seine Herkunft von Debussy und Ravel und den Einfluss seines Orgellehrers Marcel Dupré beschreiben kann und so genial er selbst als Lehrer war, ein Monolith geblieben, der serielle Techniken ebenso gern benutzte wie Leitmotive oder melodische Einfälle. Seine berühmtesten Schüler, Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen und Iannis Xenakis, haben nicht einmal seine spirituelle Mission fortgesetzt. Wie hätten sie auch an eine „musique sacrée“ anschließen sollen, deren Unterteilung in eine im engeren Sinn liturgische und eine im weiteren Sinn religiöse Musik Messiaen um eine dritte Möglichkeit erweiterte. Seine „musique colorée“ sollte mit ihrer Klangfülle ein éblouissement auslösen, wie es bei ihm einst die Kirchenfenster von Chartres taten: einen Schwindel und ein Geblendetsein vor dem Größeren, das er als „theologischen Regenbogen“ über seinem Werk strahlen sehen wollte.

Was ihn als musikalischen Denker beschäftigte, hat Messiaen oft genug gesagt: die Zeit und ihre Schichten, die Farben und deren Beziehung zu den Tönen – und schließlich die Vögel. Es gibt keinen zweiten Komponisten, der sich so akribisch an die Erforschung und Transkription von Vogelstimmen gemacht hat, so dass sich in seinen Werken Trauersteinschmätzer und Orpheusspötter, Flussregenpfeifer und Seidenrohrsänger, Lachmöwe und Rotrückenwürger, Steinadler und Zilpzalp, Brillengrasmücke und Uhu ein Stelldichein geben.

Im Licht der Chaostheorie wäre es interessant, die Linien ihrer zum Teil wenig fasslichen Gesänge mit den Verläufen der alpinen Schluchten zu vergleichen, die Messiaen so liebte, oder mit den rötlich flimmernden Sandsteinformationen von Bryce Canyon und Zion Park, die er in Amerika für sich entdeckte und in musikalische Strukturen umzusetzen versuchte. Womöglich würden auch die komplexen Rhythmusstrukturen der indischen Talas, die er gerne verwendete, in diesem Zusammenhang einen tieferen kombinatorischen Sinn offenbaren. All das sollte einen nur nicht verleiten, in dieser alles Folkloristische meidenden Weltmusik avant la lettre das zutiefst Europäische zu übersehen – nicht zuletzt, weil es sich um eine bis ins Letzte verschriftete und als solche reproduzierbare Musik handelt. Auch diese Einschränkung macht etwas von ihrer Weite aus.

Jubiläumsausgaben: Olivier Messiaen: Complete Edition. 32 CDs (DG). – Olivier Messiaen: The Works for Orchestra. SWR Sinfonieorchester, Dirigent: Sylvain Cambreling. 8 CDs (Hänssler Classic). – Olivier Messiaen: The Anniversary Edition. 14 CDs (EMI). – Olivier Messiaen: Messiaen Edition. 18 CDs (Warner)

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