zum Hauptinhalt

Kultur: Hoffnung im Herzen

KLASSIK

Von Ulrich Amling

Ein ungeschriebenes Gesetz lässt Dirigenten bereits Stunden vor ihrem Auftritt die Sprache abstreifen. Stumm begeben sie sich auf die Reise in die Welt des Klangs, die einer eigenen Syntax folgt. Doch der Beginn des Kriegs gegen den Irak lässt Simon Rattle das Schweigen brechen. Hilflos fühle man sich an diesem Tag. Hunderte Köpfe nicken zustimmend in der ausverkauften Philharmonie . Rattle hofft auf Hilfe von Joseph Haydn, dessen „Jahreszeiten“-Oratorium auf den Pulten der Philharmoniker liegt. „Ein Meisterwerk, das nach Frieden strebt. Wir spielen es mit dieser Hoffnung im Herzen.“ Was für ein Abend. Abgefallen ist alle Gemütlichkeit von Haydns Spätwerk. Der schwere Hausmantel , in den schützend gehüllt tugendreiche Bürger ein romantisches Landleben erträumen – Rattle hat ihn beherzt in die Altkleidersammlung gestopft. Mit betörender Klarheit strömen seine Jahreszeiten dahin, ballen sich Energien mit Beethovenschem Furor zusammen, um in bewegende Chöre (phantastisch präsent: der Rias-Kammerchor) zu münden. Kraft und Witz pulsieren so mitreißend durch philharmonisches Holz und Blech, dass der gern belächelte musikalische Bauernkalender einem berührenden Finale entgegeneilt: „Erblicke hier, betörter Mensch, erblicke deines Lebens Bild.“ Gemalt in leuchtenden Farben, gebannt in scharfe Umrisse, belebt vom harmonischen Solistenterzett Christiane Oelze, Ian Bostridge und Thomas Quasthoff. Haydn selbst soll seine „Schöpfung“ den „Jahreszeiten“ vorgezogen haben: In ihr reden Engel und erzählen von Gott, so erklärte er. Bei Rattle redet der Mensch. Und erzählt von seinem Streben auf Erden. Es ist nicht vergebens. Ein Haydntrost.

Zur Startseite