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Kampagne gegen Analphabetismus: HSV-Torwart Rost als "Bildungsbotschafter"

Bei der europaweit größten Bildungsmesse "didacta" ist das Thema Analphabetismus ein Schwerpunkt - mit mehreren Diskussionsrunden und der Auszeichnung von HSV-Torwart Frank Rost.

Köln - Das Formular bringt ihn ins Schwitzen, der Bus- Fahrplan ist für ihn ein Rätsel, die Zeitung ein großes Geheimnis. "Ich verpasse richtig was, ich bekomme vieles nicht mit, weil ich nicht lesen kann", sagt Analphabet Thomas (42). Im Land von Goethe und Schiller können laut Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung mehr als vier Millionen Erwachsene kaum oder gar nicht lesen und schreiben und gelten damit als funktionale Analphabeten. Bei der europaweit größten Bildungsmesse "didacta" in Köln bildet das Thema deshalb einen Schwerpunkt.

HSV-Torwart Frank Rost wurde am Mittwoch als "Bildungsbotschafter" ausgezeichnet. Der bekannte Keeper des Fußballbundesligisten engagiert sich als Schirmherr des Projekts "F.A.N. - Fußball. Alphabetisierung. Netzwerk" schon seit geraumer Zeit und wurde 2006 "Alphabetisierungs- Botschafter" des Verbandes aus Münster. "Analphabetismus ist in Deutschland immer noch ein Tabu", beklagt der Sportler. Eine aktive Teilhabe am gesellschaftlichen und beruflichen Leben falle schwer, viele Analphabeten seien isoliert. Besonders schwierig sei das Bekenntnis zur eigenen Schwäche, die Überwindung der Scham und das Annehmen von Hilfsangeboten, weiß der Keeper aus seinem Einsatz. Bildung sei das wichtigste Gut überhaupt, meint Rost - und betont: "Lesen soll wie Fußball Volkssport werden."

Familiärer Hintergrund entscheidend

Analphabetismus ist kein intellektuelles, sondern ein soziales Problem oder durch "individuelle Umstände" bedingt, sagen die Experten. Jüngere Analphabeten kommen häufig aus schwierigen und belasteten Familien. Jährlich verlassen rund 80.000 junge Menschen - etwa zehn Prozent eines Schuljahrgangs - die Schule ohne Abschluss.

Ursachen bei den Älteren seien meist mangelnde Bildungschancen in der Nachkriegszeit oder auch unerkannte Legasthenie-Fälle, sagt Nicole Lammers von der privaten Bildungseinrichtung Sprünge-Institut in Köln. Viele Menschen mit starken Lese- und Schreibschwächen schämen und verstecken sich, mogeln sich mit Tricks durchs Leben, um bloß nicht "aufzufliegen".

Bundesweit krempeln derzeit laut Alphabetisierungsverband 20.000 Menschen die Ärmel hoch und nehmen an speziellen Kursen teil, die vor allem die Volkshochschulen anbieten. Auch Thomas drückt bei der VHS in Köln seit einigen Monaten wieder die Schulbank. "Ich bereue, dass ich die Schule schon nach der siebten Klasse abgebrochen habe, aber ich habe damals auf der Sonderschule einfach nichts gelernt", erzählt der 42-Jährige. "Das ABC habe ich noch drauf, aber das Wörter- Zusammensetzten fällt mir schwer." Thomas Partnerin unterstützt ihn, vor seinen Geschwistern und Eltern ist ihm seine Lage aber peinlich.

Einzeltrainings und Kleingruppen

"Viele wagen es lange nicht, ihr Problem anzugehen, da sind massive Ängste im Spiel", sagt Lammers vom Sprünge-Institut. Die Erwachsenen werden in Einzeltrainings geschult, zudem gehen die Lehrer auch in die Unternehmen, um Schulungen in Kleingruppen abzuhalten. "Viele kommen erst zu uns, wenn sie einen Job verloren haben oder wenn sie eine Tätigkeit in Aussicht haben, die sie mit Lesen und Schreiben konfrontieren würde."

Elisabeth, die als Kind nie eine Schule besuchte, hat sich mit 54 Jahren zu einem VHS-Kurs durchgerungen. "Es ist für mich nicht leicht zu lernen, als Kind wäre mir das bestimmt schneller in den Kopf gegangen." Nachdem sie seit Jahren mit dem Bekleben von Farb-Eimern ihre Brötchen verdiene, sei sie nun dem Rat einer guten Bekannten gefolgt und besuche den Alphabetisierungskurs. "Ich kann überhaupt nicht lesen, aber dumm bin ich nicht." (Von Yuriko Wahl, dpa)

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