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Die Choreografin Deborah Hay (78) im Hebbel am Ufer in Kreuzberg.

© Kai-Uwe Heinrich

Choreografin Deborah Hay: "Ich bin tief in der Gegenkultur verwurzelt"

Am Freitag eröffnet das Festival "Tanz im August". Der amerikanischen Choreografin Deborah Hay wird dabei eine Werkschau gewidmet. Wir haben sie getroffen.

Von Sandra Luzina

Deborah Hay und ihre fünf Tänzer stehen im Kreis auf der Bühne des Hebbel-Theaters, um sich einzustimmen auf den Durchlauf. Mit der Premiere von „Animals on the Beach“ wird „Tanz im August“ am Freitag eröffnet. Deborah Hay richtet noch einige Worte an die Tänzer, die hoch konzentriert wirken. Sie strahlt eine heitere Gelassenheit aus, von Anspannung ist nichts zu spüren.

„Tanz im August“ feiert die Ausnahmechoreografin in der 31. Ausgabe mit einer umfassenden Werkschau: „RE-Perspective Deborah Hay“ präsentiert Hays choreografisches Schaffen seit 1968 und lädt dazu ein, einige ihrer Arbeiten in aktuellen Inszenierungen neu zu betrachten. Zwei Neukreationen ergänzen das Programm. Hay, Jahrgang 1941, blickt ja nicht auf ein abgeschlossenes Werk zurück. Sie ist immer noch aktiv als Choreografin und Pädagogin, immer noch offen und neugierig. Und wird sogar selber auftreten. In dem Solo „my choreographed body … revisited“ schöpft sie aus ihrem reichen Erfahrungsschatz und reflektiert darüber, wie sie als Künstlerin durch ihre besondere Praxis geprägt wurde.

Da das Werk von Hay nicht abgeschlossen ist, spricht sie auch nicht von einer Retrospektive und schlägt stattdessen den Begriff „RE-Perspective“ vor. „Es ist das erste Mal in meiner Karriere, dass ich die Möglichkeit habe, einige meiner älteren Arbeiten neu zu betrachten. Aber ich versuche nicht, den Tänzern etwas beizubringen, so wie ich es vor 40 Jahren tat. Der einzige Weg, wie es für mich funktioniert, ist, sie zu inspirieren.“

Die Performer werden zu Co-Choreografen

Die Tänzer sind jedenfalls ganz verrückt danach, mit Deborah Hay zu arbeiten. Christopher Roman, ein sehr versierter Performer, der in „Animals on the Beach“ mitwirkt, schwärmt: „Sie erlaubt mir, etwas anderes zu erfahren in meinem Tanzen.“ Zudem bringe Deborah Hay den Tänzern eine große Wertschätzung entgegen. Denn das ist das Besondere an Hays Arbeitsweise: Sie entwickelt mit den Performern einen kreativen Dialog, der sie zu Co-Choreografen macht. Ihr liegt es am Herzen, den Tänzern neue Möglichkeiten aufzuzeigen. In „Animals on the Beach“ gebe es kaum eine Struktur, erzählt sie. Das, worauf es ankommt, sei die Performance selbst. Sie wisse an diesem Punkt gar nicht so genau, was Choreografie sei, meint sie. „Ich schätze es, wenn ich es sehe. Es ist eine aufregende Kunstform.“ Aber was Choreografie sei, das müsse man selber herausfinden. Sie habe auch keine spezifische Methode entwickelt. Denn sie könne niemandem beibringen, wie man meine Arbeiten macht. „Ich vergleiche mich gern mit John Cage“, sagt sie und lacht. „Cage hatte keine Methode, er hatte eine Philosophie.“

Dass der amerikanische Komponist sie beeinflusst hat, erstaunt nicht. Als junge Tänzerin hat Deborah Hay die Klassen von Merce Cunningham besucht – und ging dann 1964 sechs Monate auf Tour mit der Cunningham Dance Company. Cage war ein enger Freund des Choreografen und der musikalische Leiter der Company. Dass Hay dann zum legendären Judson Church Dance Theater stieß, war Zufall. Denn in Cunninghams Studio fanden die Kompositionsklassen von Robert Dunn statt, aus denen diese radikal neue Bewegung des „postmodern dance“ hervorging. „Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort“, sagt Hay rückblickend. Regeln zu brechen, Konventionen über Bord zu werfen – das war auch für sie ein wichtiger Antrieb.

Sie war eigentlich ein richtiges Stadtgewächs

1970 verließ Hay New York. In Brooklyn aufgewachsen, war sie eigentlich ein richtiges Stadtgewächs. Doch an einem Wochenende in Vermont hatte sie eine wunderbare Erfahrung gemacht, die ihr Leben verändern sollte. „Ich habe dort zum ersten Mal in meinem Leben die Stille erlebt.“ Sie lebte sechseinhalb Jahre in einer Hippie-Kommune im nördlichen Vermont. Zu dieser Zeit ging sie jeden Tag ins Studio, entwickelte ihre ganz eigene Praxis. Damals wurde in der Alternativszene oft vom „zellulären Bewusstsein“ geredet. „Ich hatte Bücher darüber gelesen und dachte: „Das ist genau das, was ich beim Tanzen empfinde!“ Später entwickelte sie ihre berühmten Fragen im Modus des „what if ...“. Eine dieser Fragen lautet: „Was wäre, wenn jede Zelle meines Körpers in sich das Potenzial bergen würde, Raum und Zeit und alles, was ist, in seiner Einzigartigkeit wahrzunehmen?“ Diese spekulativen Fragen dienen Hay als Stimulus für die Tänzer, um festgefahrene Muster zu überwinden und neue, ungewohnte Bewegungen zu entwickeln.

[„Animals on the Beach“ und „my choreographed body … revisited“: Fr 9.8., 18.30 Uhr, Sa 10. und So 11.8. 19 Uhr. „RE-Perspective Deborah Hay“, 9. bis 31.8., Programm: www.tanzimaugust.de]

Hay, die seit 1976 in Austin, Texas lebt, war lange in Community-Projekten engagiert, mit untrainierten Tänzern. Als sie die australische Tänzerin Ros Warby sah, die ein Solo von ihr adaptiert hat, bekam sie Lust darauf, mit Profitänzern zu arbeiten. Als ihre Karriere dann richtig Fahrt aufnahm, war sie schon über 60. Bis heute beeinflusst sie das internationale Tanzgeschehen. Und immer noch vertritt sie eine radikale Auffassung von Choreografie.

„Turn your fucking head“ lautet eine andere Aufforderung von Deborah Hay. Es ist eine Einladung, die eigene Perspektive zu verschieben, den eigenen Horizont zu erweitern. Leben und künstlerische Praxis fließen bei ihr ineinander. Ihre Offenheit und Unvoreingenommenheit manifestieren sich nicht nur beim Choreografieren. Sie blickt auch immer noch voller Neugier auf die Welt. Deshalb wirkt sie so jung mit ihren 78 Jahren.

Deborah Hay ist tief in der amerikanischen Gegenkultur verwurzelt. Das macht den besonderen Spirit ihrer Arbeiten aus, denen ein ganz eigenes Tanzverständnis zugrunde liegt. Ist sie denn heute noch ein Hippie? „Ich lasse es nicht mehr so raushängen“, sagt sie lächelnd, „aber das steckt immer noch in mir.“

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