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Dichtung: Im Rausch der Lyrik

Heldengeschichten: Juri Andruchowytsch erzählt von seinem Leben als Dichter in der Ukraine. Seit der Wende ist Andruchowytsch unermüdlich unterwegs und im Westen zu einer Art inoffiziellem Sprecher der Ukraine geworden.

Nichts Schrecklicheres als Memoiren. Memoiren sind eine Sache für alte Politiker und alternde Generäle. Der Schriftsteller, der gerade mal 48 Jahre alt ist und ein Buch voller Erinnerungen vorlegt, wäre gekränkt, wenn dieser biographische Entwurf als Memoiren aufgefasst werden würde. Juri Andruchowytsch, derzeit Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin, behauptet deshalb listig, der Gesprächsband, den er vorlegt, sei ein Roman. Dabei geht es um nichts anderes als sein Leben und seine dichterische Existenz in der Ukraine und anderswo. Wie könnte es auch anders sein: Jedes Leben ist als erzähltes Leben ein Roman und ein „Geheimnis“ – so der Titel des Buches. Klar und wahr ist bei genauer Betrachtung nicht so viel. Der Erzähler führt Versionen seiner Lebenswahrheit vor und konstruiert mögliche Entwicklungslinien. Fiktion muss dabei kein Gegensatz zum Faktischen sein.

Juri Andruchowytsch hat sich zum Zwecke des flüssigen Erzählens ein Alter Ego geschaffen, das er Egon Alt nennt. Dieser ist ein westdeutscher Journalist, der ihn im Herbst 2005 in Berlin um ein Interview gebeten haben soll. Weil die beiden sich nicht zuletzt auch auf Basis ihrer alkoholischen Vorlieben prima verstanden, wurden daraus „Sieben Tage mit Egon Alt“ – also so etwas wie ein biblischer Schöpfungsakt, der das Ich und seine Welt erschafft. Am siebten Tag ruhten die beiden Herren sich aber nicht etwa aus, sondern fuhren mit der S-Bahn kreuz und quer durch Berlin, auf der Suche nach einem schönen Stückchen Dope. Und siehe, es war gut.

Egon Alt, so geht die Legende weiter, schickte wenig später per Post die Mitschnitte der Gespräche. Veröffentlichen aber wolle er sie erst nach dem Ableben des Autors, weil sie dann größeres Gewicht haben würden. Stattdessen stirbt jedoch Egon Alt bei einem Autounfall. Andruchowytsch muss das Material folglich selbst bearbeiten, indem er, wie er sich ausdrückt, „alle inhaltsleeren Stellen und alles Gebrabbel“ entfernt. Von Egon Alt ist auf diese Weise nicht allzu viel übrig geblieben. Er ist ein solider Stichwortgeber, mehr nicht. Die Interviewform ist ein hübsches Spiel, ausgereizt hat Andruchowytsch sie nicht. Trotzdem hat diese Konstruktion ihren Reiz: Die Lebensgeschichte wird zum Gespräch mit einem Toten. Und ums Altern, ums Sterben, um das große Rätsel des Lebens geht es auch, sieben Tage lang.

Die größten Abenteuer sind Text-Abenteuer

Der Lebensroman, der auf diese Weise entstand, schildert, kurz gesagt, das verzögerte sexuelle und das heftige poetische Erwachen eines jungen Mannes. So sehr er sich jahrelang danach verzehrte, doch endlich, wie all seine Freunde, den ersten Geschlechtsverkehr zu absolvieren, so beglückend und gelingend erscheint von Anfang an der dichterische Werdegang. Von den Schulaufsätzen über erste Gedichte bis zur Gründung der Poesie-Gruppe Bu-Ba-Bu in den achtziger Jahren ist Andruchowytsch immer dann er selbst, wenn er schreibt. Schon deshalb, weil die größten Abenteuer Text-Abenteuer sind, kann dieses Leben nichts anderes ergeben als einen Roman.

Das heißt aber nicht, dass Andruchowytsch sich nur für sich selbst interessierte. Er erzählt aus ukrainischer Perspektive vom Zusammenbruch der UdSSR, der damit begann, dass Breschnews Sarg laut polternd ins Grab stürzte und damit den Machthabern die politische Kontrolle entglitt. Er berichtet von seinen grauenhaften Erlebnissen bei der sowjetischen Armee, von seiner Arbeit in einer Druckerei in seiner Heimatstadt Iwano-Frankiwsk, von studentischen Saufexzessen in Lemberg und in Moskau, der Entstehung von Büchern und Texten, seiner Liebe zu Dynamo Kiew und Pink Floyd und einer Reise- und Weltsehnsucht, die sich erst in den neunziger Jahren erfüllen konnte. Seit der Wende ist Andruchowytsch unermüdlich unterwegs und im Westen zu einer Art inoffiziellem Sprecher der Ukraine geworden, der sich immer wieder für den EU-Beitritt seines Heimatlandes stark macht.

Doch vor allem ist „Geheimnis“ die große Heldengeschichte der Dichter aus der heroischen Phase der ukrainischen Dichtung. In den späten achtziger und frühen neunziger Jahren müssen Lesungen in Lemberg so aufputschend wie Rockkonzerte gewirkt haben. Lyrik hatte ein Massenpublikum, das nach Poesie geradezu gierte. Juri Andruchowytsch schwelgt in diesen rauschhaften Zeiten des lyrischen Rock''n''Roll. Er verzeiht der Ukraine nicht, dass sie nach kurzen Phasen emotionaler Aufwallung immer wieder in den historischen Tiefschlaf zurückfällt. Deswegen möchte er daran erinnern und hofft darauf, dass diese Vergangenheit vielleicht doch noch nicht ganz vorüber ist.

Juri Andruchowytsch: Geheimnis. Sieben Tage mit Egon Alt. Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr. Suhrkamp, Frankfurt/Main 2008, 390 Seiten, 24,80 €.

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