Kultur: In großer Nähe, so fern
Alleinsein in der Metropole: „Play“ – das sensible Debüt der Chilenin Alicia Scherson
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Die Großstadt als Ort von Vereinsamung und Entfremdung – dieses Klagelied hat in der Filmgeschichte Tradition. Auch in „Play“, dem Spielfilmdebüt der Chilenin Alicia Scherson, klingen solche Töne an, aber eher leise. Scherson hat dem Film lakonisch ein italienisches Sprichwort vorangestellt: „Die Zeiten sind hart, aber modern“. Nur: Sind sie zu hart – oder noch erträglich?
Die junge Krankenschwester Cristina ist vom Land in die Hauptstadt Santiago gekommen. Sie gehört zum Stamm der Mapuche, der sich die Unabhängigkeit von den Spaniern am längsten bewahrt hatte. Im 20. Jahrhundert aber verlor er seine Lebensgrundlage an Großgrundbesitzer und Holzfirmen. Nun pflegt sie einen bettlägerigen Mann. Sie tut das liebevoll, aber es erfüllt sie nicht. „Er lebt mehr als ich“, sagt sie einmal. Trotzdem ist sie nicht resigniert. Sie hat ein Ziel vor Augen, einen Platz in dieser fremden Gesellschaft, eine Stadtidentität.
In ihrer Freizeit lässt sie sich durch die Straßen treiben und beobachtet aus großen Augen die neue Welt. Sie spielt Street Fighter II in einer lauten Spielhalle, jenes legendäre Computerspiel der frühen Neunziger, in dem die Straßen der Großstadt zum Kampfplatz werden. Als Spielcharakter wählt sie „Chun Li“, die erste weibliche Protagonistin in diesem Genre, eine virtuelle Emanzipation. Wenn Cristina von ihren Streifzügen nach Hause kommt, steht sie vor dem Spiegel und probiert die neuen Gesten aus, als seien es Kleidungsstücke, als sei Identität nur ein Spiel.
Manchmal scheint es, als wäre das ganze Leben für sie ein Spiel. Sie trifft den Aushilfsgärtner Manuel, lockt ihn an, lässt ihn doch wieder stehen. Dann findet sie eine Aktentasche und breitet die Fundstücke aus. Sie hört die Musik vom fremden MP3-Player und raucht vor dem Spiegel die Zigaretten. Erst übt sie, dann wird es Teil von ihr. Irgendwann spürt sie den Besitzer der Aktentasche auf und schleicht sich in sein Leben.
Die Tasche gehört dem Architekten Tristán, der gerade von seiner Frau verlassen worden ist. Das hat ihn fundamental erschüttert; er fällt aus der Welt, und was noch an ihm haftet, das streift er ab. Dass ihm seine Aktentasche gestohlen wird, stört ihn nicht, sein Handy schmeißt er weg. Er flieht ins Haus seiner blinden Mutter, findet dort aber kein Refugium, denn sie hat selbst eine Art Endstadium der Einsamkeit erreicht.
Einsame Krankenschwester heilt krankes Architektenherz – das ist der Stoff, aus dem Liebesgeschichten sind. Aber „Play“ ist kein Märchen, jedenfalls kein konventionelles, weil Cristina sich kaum ein Rollenkleid länger anzieht. Eben noch das naiv-verhuschte Landmädchen, dann die kämpfende Großstadtamazone, schließlich eine traumhaft entrückte Engelsgestalt. Und am Ende ist es wie mit der Zaubertafel, die Tristán zu Hause bemalt: Mit einem Wisch ist alles weg.
Scherson hat die beiden Geschichten wie zwei Melodien arrangiert, die kontrapunktisch nebeneinander herlaufen. Sie berühren sich für einen flüchtigen und sehr süßlichen Moment, um sich wieder auseinanderzubewegen. Daneben sind noch andere Großstadtschicksale eingewoben, die lose mit Cristina und Tristán verknüpft sind. Wie im modernen Leben: Die Fäden zwischen den Menschen sind zwar dünn und zufällig, aber man hält sich fest, wo man kann.
„Play“ bewegt sich – bunt, manchmal überzeichnend – zwischen Traum, Wirklichkeit und Computerspiel. Oft heftet sich die Kamera an beliebige Gegenstände und lädt ihnen das ganze Gewicht der Welt auf. Mitunter wiegt das ein wenig schwer. Aber es schadet nicht, weil Scherson so auch große Metaphern der modernen Vereinzelung gelingen. Wenn Cristina unter dem schweren, schwarzen Schalenkopfhörer durch die Straßen läuft, dann sieht es aus, als trüge sie Scheuklappen. Eine Monade ist der Mensch eh, aber jetzt, so scheint es, hat er auch noch das Fenster zur Seele dichtgemacht.
Central und fsk (beide OmU)
Jean-Michel Berg
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