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Autorin Véronique Ovaldé.

© Photo Pascal Ito Flammarion

Roman „Niemand hat Angst vor Leuten, die lächeln“: In Liebe zu einer Beretta

Véronique Ovaldés Emanzipationsroman „Niemand hat Angst vor Leuten, die lächeln“ ist ein gelungener Hybrid aus Thriller und Familienporträt.

Stand:

„Komme, was da wolle“ ist nicht nur der Spruch, den Gloria auf den Grabstein ihres Vaters meißeln lässt – er könnte auch ihr eigenes Lebensmotto sein. Gloria ist sechzehn, als ihr Vater stirbt; ihre Mutter hat sich aus dem Staub gemacht. Als Familienersatz dient Onkel Gio – nicht ihr richtiger Onkel, sondern ein enger Freund ihres Vaters – in dessen Bar an der französischen Mittelmeerküste sie arbeitet. Schnell wird klar: Gloria ist zäh, pragmatisch, gewohnt, sich durchzuschlagen.

Zugleich ist ihre Verletzlichkeit zu spüren, ihre Sehnsucht nach Anerkennung, Liebe, Geborgenheit – eine explosive Mischung, die sie prädestiniert für die Hauptrolle in Véronique Ovaldés Roman „Niemand hat Angst vor Leuten, die lächeln“, einem Hybrid aus Krimi, Thriller und Familienporträt, der nicht zuletzt von seinen verschrobenen, schwer durchschaubaren Charakteren lebt.

Wie dem jugendlichen Trinker, Schmuggler und Fälscher Samuel, der Gloria in Onkel Gios Bar lässig um den Finger wickelt, und von dem sie bald darauf ein Kind erwartet. All dies erfahren wir nach und nach in Rückblenden.

Ovaldés Roman beginnt viele Jahre später, mit einer Flucht: Gloria holt ihre Töchter, die sechsjährige Loulou und die adoleszente Stella, von der Schule ab, und reist mit ihnen überstürzt von der Côte d'Azur ins Elsass.

Emanzipationsgeschichte über mehrere Generationen hinweg

Warum und wovor sie flieht, deutet sich lediglich zwischen den Zeilen an, oder besser gesagt: Die Autorin legt diverse Fährten aus, die uns Verschiedenes vermuten lassen. Nur so viel weiß man: Die im ersten Satz erwähnte „Beretta ihrer großen Liebe“ wird zum Einsatz kommen.

Zunächst spielen diese Krimi-Elemente kaum eine Rolle. Vielmehr scheinen sie der 1972 geborenen französischen Autorin als Aufhänger zu dienen, um anhand ihrer charismatischen Protagonistin eine eindringliche Emanzipationsgeschichte zu erzählen, die souverän die Zeitebenen wechselt und dabei mehrere Generationen überspannt.

Ovaldé findet eindrückliche Bilder für ihre Figuren, für deren Beziehungsdynamiken: Etwa wenn Glorias Mutter ihre kleine Tochter auf die Rückbank ihres schwarzen Käfer-Cabrios setzt, den ganzen Tag mit ihr in der Gegend herumkurvt und abends dem Mädchen das zerzauste Haar auskämmt, während sie Krimiserien schaut. In wenigen Sätzen kondensieren sich diese Momente ambivalenter Nähe, die Gloria deshalb so genießt und für immer in Erinnerung behalten wird, weil es die einzigen sind, die sie mit ihrer Mutter verbindet.

Ovaldé traut ihrem eigenen Talent nicht

Ebenso feinfühlig beschreibt Ovaldé die Beziehung zwischen Gloria und Samuel als prekären Pas de deux, ein Oszillieren zwischen Geborgenheit und Misstrauen: „Er hatte eine so besondere Art, sie anzufassen, er tat es von Mal zu Mal vorsichtiger, mit der Sorgfalt und dem Fingerspitzengefühl eines Diebes, der versucht, einen Safe zu öffnen.“

Dieser Satz fängt nicht nur die große Zärtlichkeit zwischen den Liebenden ein, sondern auch den Ballast, den beide bereits in jungen Jahren mit sich herumtragen. Kalkuliert agieren, der Umwelt etwas vorspielen, um das eigene Überleben zu sichern – auch dies eine Variation über das Motiv der Täuschung, das sich als roter Faden durch den Roman zieht.

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Schade nur, dass Ovaldé ihrem Talent fürs szenische Erzählen nicht durchweg vertraut. Warum sonst schiebt sich häufig eine allwissende Erzählstimme dazwischen, die psychologisierende Erklärungen liefert für innere Zustände, die man sich ohnehin selbst zusammenreimen kann? Geradezu entmündigt wird man, wenn diese auktoriale Stimme Pauschalisierungen und banale Weisheiten absondert wie „Liebe auf den ersten Blick ist ein erstaunlicher Vorgang“ oder „der Kontrast zwischen der Zärtlichkeit der Männer und ihrer sichtbaren Körperkraft ist ein Wunder“.

Manipulation und Maskerade

Kurioserweise bilden diese Einwürfe genau das ab, was Ovaldé anprangert: Eine subtil paternalistische Haltung, die ihre Hauptfigur in ihrer Entfaltung und ihren Entscheidungen behindert. Im Roman wird sie vertreten durch Onkel Gio, der Gloria von Anfang an die Verbindung zu Samuel auszureden versucht.

Oder von dem korsischen Anwalt Santini, der sich ebenso als ihr Beschützer geriert. „Liebes Mädchen“ oder „meine Schöne“ wird Gloria von den beiden älteren Männern genannt - und vielleicht ist ihre Flucht ein Stück weit auch als Befreiung aus dieser symbolischen Ordnung zu verstehen.

[Véronique Ovaldé: Niemand hat Angst vor Leuten, die lächeln. Roman. Aus dem Französischen von Sina de Malafosse. FVA, Frankfurt/Main, 224 Seiten, 22 €.]

Bis dahin waren Manipulation und Maskerade ihre Mittel der Wahl, den Ansprüchen der Männerwelt etwas entgegenzusetzen – die typischen „Waffen einer Frau“, deren Einsatz nichts an bestehenden Machtverhältnissen ändert. Erst in der Generation ihrer Töchter deutet sich ein Bruch an: „Hast du noch nie bemerkt, dass man uns immer sagt, wir sollen lächeln, um die Männer nicht zu verschrecken?“ fragt Stella ihre Mutter.

Tatsächlich wagt die Fünfzehnjährige das Experiment: Eine Woche lang vermeidet sie jedes Lächeln. Konsequent verweigert sie jede Gefälligkeit, jeden Anbiederungsversuch – und wächst damit nicht nur über ihre Mutter hinaus, sondern auch über die Fiktion, der sie entspringt.

Anja Kümmel

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