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Kultur: Interkultureller Dialog: Neue Diskussionsreihe in Berlin

Belgien in den sechziger Jahren: Bei Ausschreitungen zwischen Flamen und Valonen treibt die Polizei die Flamen auf die linke Seite und die Valonen auf die rechte. Kommt ein Jude dazwischen und fragt: "Und wohin sollen wir Belgier gehen?

Belgien in den sechziger Jahren: Bei Ausschreitungen zwischen Flamen und Valonen treibt die Polizei die Flamen auf die linke Seite und die Valonen auf die rechte. Kommt ein Jude dazwischen und fragt: "Und wohin sollen wir Belgier gehen?"

Ein Witz. Erzählt hat ihn Sander Gilman, der amerikanische Kulturwissenschaftler, der um deutsch-jüdische Geschichte kreist und mit großem Erkenntnisgewinn Grenzen zwischen den immer noch starren Wissenschaftsdisziplinen einreißt. Solchermaßen im grenzüberschreitenden Wandern erprobt, eignete sich Gilman hervorragend als Moderator einer Diskussion zum interkulturellen Dialog, die das Berliner Einstein-Forum und das Haus der Kulturen der Welt am Mittwochabend veranstaltete. Im Überwinden von Landes-, Kultur- und Denkgrenzen stehen ihm die beiden Diskutanten Dan Diner und Todd Gitlin nicht nach. Frankfurter Zeitgenosse von Joschka Fischer, Historiker und ausgewiesener Pendler zwischen deutschen, amerikanischen und israelischen Welten der eine, Dan Diner, Mitbegründer der ersten großen Demonstration gegen den Vietnamkrieg und Erkunder amerikanischer Gegenkultur der andere, Todd Gitlin.

Gilman warf den Witz ein, um die chiffrehafte Bedeutung der europäischen Juden für den Dialog zwischen unterschiedlichen Kulturen zu unterstreichen. Denn die Juden wurden in den vergangenen Jahrhunderten wie keine andere Gesellschaftsgruppe durch ihre ausgegrenzte Position in ein Leben zwischen den Kulturen gezwungen. Den interkulturellen Dialog, den die Juden trainieren mussten, wollen das Einstein-Forum und das Haus der Kulturen der Welt mit der neuen Veranstaltungsreihe "Zwischen Welten Denken" befördern.

Der Reihentitel spricht von "Welten" und meidet die "Kultur". Denn Letzteres entgleite - mit oder ohne vorangestelltes "Leit" - mehr und mehr ins Nebulöse, so die These. Dass der anthropologisch geprägte, aus dem 19. Jahrhundert stammende Kulturbegriff ebenso wie die "Nation" als identitätsstiftende Einheit ausgedient hat, darüber waren sich die auf dem Podium versammelten Weltenbummler einig. Schon innerhalb Deutschlands sei der Unterschied im Verhalten selbst von Bewohnern unterschiedlich großer Städte so gravierend, dass Diner das Gefühl hat, zwischen Welten zu pendeln, wenn er von Frankfurt am Main nach Essen fährt. Ganz zu schweigen von dem amerikanischen Kulturkampf zwischen den Großstädtern und den Provinzlern oder den innerisraelischen Grabenkämpfen. Kultur ist also nichts Feststehendes, das als sicheres Gepäck aufgesattelt werden könnte.

Doch was hält dann eine Gesellschaft zusammen? Noch dazu, wenn es sich um Einwanderungsländer handelt, zu denen über kurz oder lang auch die europäischen Staaten zählen werden. Todd Gitlin schlägt das Modell Amerika vor. Politik und Ideologie wirken dort als Kitt, wo es kein gemeinsames ethnisches oder kulturelles Fundament gibt. Und paradoxerweise gerade das Bewusstsein, kein eindeutiges Fundament zu haben.

Claudia Keller

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