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Vitaler Aggressionsstau. Susanne Wolff steht als Ismene völlig allein auf der Bühne.

© Joachim Fieguth

"Ismene" am Deutschen Theater: Schrei nach Liebe

Irrsinnsmonolog: Die fulminante Schauspielerin Susanne Wolff versucht am Deutschen Theater, Lot Vekemans’ Stück „Ismene, Schwester von“ zu retten.

Gut möglich, dass die Ödipus-Tochter Ismene wirklich die gesichtsloseste Figur des Dramenkanons ist. Während sich ihre Verwandten durch zünftige Selbstverstümmelung (Vater Schwellfuß) oder wackeres Dissidententum (Schwester Antigone) prominente Plätze in der Theatergeschichte erkämpft haben, fungiert Ismene lediglich als biederer Sidekick, um die anderen umso heller erstrahlen zu lassen. Logisch, dass einschlägige Lexika das blässliche Labdakiden-Kind ausschließlich als „Schwester“ oder „Tochter von“ führen.

Die niederländische Autorin Lot Vekemans fand das offenkundig unzureichend und rückte die Frau in ihrem Monolog „Schwester von“ ins Rampenlicht. Neun Jahre nach der heimischen Uraufführung erklettert Vekemans’ Ismene nun durch eine Luke in der hinteren Bühnenwand auch die Kammerspiele des Deutschen Theaters – in Gestalt der Schauspielerin Susanne Wolff. Unter der minimalistischen Regie von Stephan Kimmig sowie in Turnschuhen, Schlabbertrainingshosen und einer Art Blaumann-Oberteil, das weitreichende Strafvollzugsassoziationen weckt, legt sie auf einem schwarzen Steg (Bühne und Kostüme: Anne Ehrlich) sechzig Minuten lang ihre Sicht auf die Familiengeschichte dar.

Und an Wolff liegt es wirklich nicht, dass man sich bereits nach den ersten zehn Minuten beklommen fragt, warum Vekemans diesen Monologversuch eigentlich unternommen hat. Denn alles, was wir in ihrem 35-Seiter erfahren, gibt Sophokles und seinen Exegeten völlig recht: Ismene entpuppt sich auch bei der Niederländerin als durch und durch langweilige Episodenfigur, die allerdings ihrer Durchschnittlichkeit – und hier wiederum ist ein gewisser Unterschied zwischen Vekemans und Sophokles zu konstatieren – auch in entsprechend klischierten Sätzen Ausdruck verleiht. Noch tiefere Griffe in die Schubladen der Küchenpsychologie wären jedenfalls kaum möglich gewesen.

Die Kalendersprüche blühen üppig an diesem Abend

So lässt uns Ismene beispielsweise verschnupft wissen, dass Ihre Promi-Schwester Antigone, die sich später dem Staatschef, Onkel Kreon, widersetzen und dafür in den Tod gehen wird, schon als Kind auf gemeinsamen Familienspaziergängen immer „die Beste“ sein wollte: „Als Erste oben auf dem Berg, als Erste unten im Tal.“ Schließlich entfährt Ismene ein inbrünstiges: „Ich hasse sie!“ Keine TV- Vorabendserie könnte diesen schwesterlichen Konkurrenzkampf trefflicher in Worte gießen.

Während mit dem Beziehungsdrama „Gift“ auf der großen DT-Bühne zurzeit ein äußerst gut funktionierendes well made play von Lot Vekemans läuft, geht es bei „Ismene, Schwester von“ im Kalenderspruch-Format weiter. „Kleine Dinge genießen ist auch eine Kunst“, schreibt uns die Ödipus-Tochter etwa ins Poesiealbum. Oder: „Das Leben geht immer weiter, ob man will oder nicht.“ Und, auch das musste mal wieder gesagt werden: „Schon merkwürdig, wie schnell Macht Männer verändert!“ So weit zu den Fakten, die sich im Parkett problemlos abnicken lassen.

Andererseits haben Kinder derart dysfunktionaler Familienverhältnisse, wie sie bei den Labdakiden gang und gäbe sind, auch mit Problemen zu kämpfen, die unseren Normalo-Horizont bei Weitem übersteigen. Man stelle sich vor, man ist auf einem Geburtstag und die Leute fragen: „Sag mal, leben deine Eltern noch?“ Und muss antworten: „Nein, die eine hat sich umgebracht, der andere hat sich die Augen ausgestochen und ist verbannt umhergeirrt, bis er starb.“ Klaro: Das kommt dann schon irgendwie blöd, „wenn der andere gerade in seinen Kuchen beißt“.

Man muss Susanne Wolff Respekt zollen, dass sie das, was bei der Lektüre haarscharf an der Grenze zu Pathos oder unfreiwilliger Komik entlangschrammt, nicht nur vollkommen peinlichkeitsfrei, sondern geradezu spontan, lebendig und mit einer Art Charaktertiefe über die Rampe transportiert, die man aus dem klug zusammengestrichenen Text heraus schwerlich für möglich gehalten hatte. Wolff changiert zielsicher zwischen verhuschter Hausfrau und ewig zu kurz Gekommener mit entsprechend vitalem Aggressionsstau und gelegentlichen Nachdenklichkeitsschüben. Schauspielerisch ist diese Textrettung zweifellos sehenswert.

Umso mehr hätte man Susanne Wolff von vornherein eine Vorlage mit Tiefendimension gewünscht. Aber in einem anderen Labdakiden-Abend unter Kimmigs Regie, „Ödipus Stadt“, spielt sie bereits Antigones Widersacher Kreon. Und zwar „fulminant“, wie das DT selbst auf seiner Website befindet. Daran wollten Regisseur und Schauspielerin offenbar anknüpfen.

Wieder 27. März, 4. und 17. April

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