
© Sara Mac Key
Ist ja alles so bunt hier: Aris Fioretos über die Vielfalt von Grautönen
Der schwedische Schriftsteller beleuchtet in einem hochliterarisch aufgeladenen Essay eine unterschätzte Farbe.
Stand:
Im Schwarzweiß der Bücher brauchen Farben die Vorstellungskraft der Leser nicht weniger als Gesichter und Szenerien. In der Naturlyrik grünt vielleicht die weite Flur, und vor dem inneren Auge sprießt die Flora. Oder genügt schon der reine Laut?
Der rebellische Dichter Arthur Rimbaud ordnete seinerzeit allen Vokalen Farben zu und schrieb, das „I“ sei „rot“ und „letzter Aufschrei in den Mörderzellen“. Rund hundert Jahre später forderten die kritischen 68er-Studierenden der Germanistik in Berlin „die blaue Blume der Romantik“, dieser von Novalis aufgebrachte Dichtertraum, „muss rot werden“.
Dem Grau hat der lange in Berlin beheimatete Schriftsteller Aris Fioretos ein Buch gewidmet. Im schwedischen Original erschien es bereits vor mehr als 30 Jahren. Dank Fioretos‘ Übersetzer Paul Berf und dem Wiener Verlag Sonderzahl können nun auch deutschsprachige Leser die grauen Gefilde der Dichtung erkunden. Vorausgesetzt, sie kippen die schicke Büttenbroschur ein wenig, denn nur so erkennt man auf dem Cover Titel und Autornamen. Die ersten Zeilen des Texts bleiben unleserlich, bis die Graustufen der Schrift Zeile für Zeile dunkel genug werden, damit man Buchstaben erkennen kann. Auf der letzten Seite wird der Text dann allmählich unleserlich hell.
„Das graue Buch“ illustriert also auch als Buch, was grau sein heißt. Gar nicht so leicht ist aber zu fassen, was der Gegenstand des Buches ist. Die Abschnitte tragen die Titel „Tränen“, „Rauch“, „Körnung“, „Wolken“, und der erste, in dem es um Bleistiftstummel und Graphit geht, hat aufgrund des beschriebenen Druckverfahrens gar keinen Titel. Fioretos ist vor allem als Autor von Romanen bekannt.
Die meisten seiner Werke beruhen auf Recherchen, die Fioretos zu Fiktionen, in denen er von einem unerhörten Leben erzählt, umgebaut hat. In seinem 2023 erschienenen Roman „Die dünnen Götter“ ging es um einen fast vergessenen Rockstar, im vorigen Buch „Mary B.“ um eine deutsche Flugpionierin. Fioretos ist aber auch Literaturwissenschaftler und studierte in einer Zeit, als die Dekonstruktion in Mode war.
Wie Literatur „Flüchtigkeit verwahrt“
Fioretos spürt in seinem Frühwerk Phänomenen nach, die nur im Übergang existieren. Er zeigt, wie Literatur „Flüchtigkeit verwahrt“ über die Epochen hinweg. Am Beispiel von Edgar Allan Poes Erzählung „Der Untergang des Hauses Usher“ beschäftigt sich Fioretos mit dem Nebel, der sich nicht greifen lässt, aber imstande ist, die Welt zu verschlingen.
Ein Tagebucheintrag Kafkas aus dem frühen 20. Jahrhundert verknüpft den Wunsch der Schreibenden zu bleiben – und dessen schiere Vergeblichkeit: „Mancher hält sich an einem Bleistift über Wasser. Hält sich? Träumt als Ertrunkener von Rettung.“ Graue Figuren zwischen Leben und Tod faszinieren ihn in Kafkas Erzählungen. In den Tränen des Helden Achilles findet der Autor in der Antike ein Anzeichen von Individualität. In mittelalterlicher Dichtung zeigt er, wie Rauch ein Bild für Zorn wird.
Immer wieder gelingen Fioretos Sätze von entwaffnender Klarheit: „Tränen schenken Klarheit, ohne sich zu erklären.“ Er streift die Prosa Becketts, die Zeitdehnkunst in den Romanen Nabokovs. Wir folgen als Leser eleganten Assoziationen, dabei bleiben jedoch zeithistorische oder biografische Kontexte, die helfen würden, seine Beobachtungen einzuordnen, im Dunkeln. Fioretos schattiert Ideen, setzt Akzente und Wissen voraus. Er macht auf Vorgänge aufmerksam, denen niemand Beachtung schenkt, der im Stechschritt liest, denkt und die Welt betrachtet.
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