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Kultur: Jeder ein Stück der Armatur des Staates - Kurt Flasch erforscht die Mitschuld der Intellektuellen am Ersten Weltkrieg

Das Selbstgefühl der Intellektuellen ist derzeit bestenfalls: Ratlosigkeit. Auf Symposien und in den Feuilletons meditieren sie über ihre fragwürdig gewordene Rolle in der Mediengesellschaft.

Das Selbstgefühl der Intellektuellen ist derzeit bestenfalls: Ratlosigkeit. Auf Symposien und in den Feuilletons meditieren sie über ihre fragwürdig gewordene Rolle in der Mediengesellschaft.

Wie schwer es den vom medialen Markt abhängigen Intellektuellen fällt, ihre analytische Störfunktion in Kriegsphasen aufrecht zu erhalten, hat sich im letzten Frühjahr während des Kosovo-Krieges und noch dramatischer vor zehn Jahren während des Golfkrieges gezeigt. Damals trat beinahe durchgehend an die Stelle der Reflexion die codierte Selbstzuordnung als "Bellizist" oder "Pazifist". George Bush hatte am 15. August 1990 eine historische Analogie zwischen Hitler und Saddam Hussein gezogen. Michael Massing schrieb dazu 1991 in der "New York Review of Books": "Als sie in die politische Diskussion einbrach, gewann die Hitler-Analogie ein Eigenleben und verursachte wichtige Veränderungen in der Politik." In diesem Kontext muss heute Enzensbergers "Spiegel"-Essay vom Februar 1991 gelesen werden, in dem der Vergleich zwischen Hitler und Hussein nicht etwa intellektueller Kritik unterzogen, sondern mit anthropologisierenden Erwägungen über das Böse verziert wurde.

Das Versagen der Intellektuellen, auch in Zeiten des Krieges den Krieg zu denken und nicht bloß ihre politische oder moralische Meinung zu sagen, macht Kurt Flaschs "Versuch" über "Die deutschen Intellektuellen und den Ersten Weltkrieg" zu einer zeitgemäßen Lektüre. Keineswegs handelt es sich nur um irgendein ein weiteres Buch zum gut erforschten "Great War", wie die Engländer noch heute sagen. Der Begriff der "intellektuellen Funktion" wird von Flasch nicht erwähnt, aber seine Perspektive ist derjenigen Umberto Ecos nicht unverwandt. Aufgabe der Intellektuellen sei es, "Zwiespältigkeiten auszugraben und ans Licht zu bringen", hat Eco einmal gesagt.

Flasch unterscheidet Texte, die über den Krieg sprechen, und Texte, die den Krieg denken. Das "Denken des Krieges" ist eine intellektuelle, oder wie Flasch sagen würde: philosophische Operation, das Sprechen über den Krieg ist politisches Agieren und ideologisches Agitieren. In der Inkubationsphase des Krieges, während der Mobilisierung im August 1914 und in der ersten Phase bis zum Festfressen der Massenheere in den Stellungen, traten die Spitzen des akademisch-geisteswissenschiftlichen Establishments wieder und wieder vor das Publikum. In rauschhafter Begeisterung und Verblendung bejubelten und beschworen sie die Notwendigkeit und Gerechtigkeit des deutschen Krieges gegen England, Frankreich und Russland.

Allein der Philosophieprofessor und Literaturnobelpreisträger Rudolf Eucken hielt "im Zeitraum eines Jahres sechsunddreißig öffentliche Reden", wie Fritz K. Ringer in seiner nach wie vor lesenswerten, wenn auch derzeit nicht lieferbaren Studie über "Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine" gezählt hat. Zum Hintergrundmotiv der antipolitischen Kulturrhetorik der Mandarine merkt Ringer an: "Das relativ plötzlich sich entwickelnde moderne politische Leben in Deutschland bedrohte einfach die Position der älteren Eliten." Der Krieg war eine willkommene Gelegenheit, an die Werte zu erinnern, mit denen die alte Bildungselite Karriere gemacht hatte und die durch die rasante Entwicklung einer städtisch ausgerichteten Massengesellschaft außer Mode gekommen waren. Die Eiferer an den Kathedern und auf den Podien fantasierten den Krieg als eine Grand Tour zurück zum "deutschen Wesen", an dem die abendländische Kultur von der englischen Zivilisationskrankheit genesen sollte.

Diesen Befund stützen Flaschs exemplarisch zusammengestellte Texte. Indem er die rhetorischen Figuren der Kriegsreden und -schriften von Rudolf Eucken, Ernst Troeltsch, Friedrich Meinecke, Max Scheler und anderen, weniger bekannten Autoren zitiert und nachzeichnet, konturiert er die ideologischen Schnittmuster, nach denen die kulturkonservative Intelligenz ihre Kriegsmeinungen geschneidert hat. Flasch, renommierter Fachmann für die Interpretation scholastischer Texte, weist gelegentlich darauf hin, wie sehr ihn die Verdrehtheit mancher Zeugnisse an die umständliche Beweisarbeit erinnert, mit der die Theologen des Mittelalters ihre denkerischen Einsichten mit den religiösen Setzungen der Kirche in Übereinstimmung zu bringen suchten.

Die wichtigsten Operationen im Offensivkrieg der Texte ordnet Flasch nach folgenden Tendenzen: Die "Sentimentalisierung" setzt das warme deutsche (germanische) Gefühl der lateinischen Verstandeskälte gegenüber; der "Intentionalismus" rückt an die Stelle der Analyse tatsächlicher Handlungsfolgen den Moralismus der guten Absicht; der "Maskulinismus" beschwört das "deutsche Mannestum", während der "Viktimismus" selbstmitleidig die eigene edle Einfalt vor der Tücke des Feindes beklagt; der "invasive Nationalismus" dringt bis zur "Verstaatlichung Gottes" in noch unerschlossene geistige Räume vor, und dem entspricht die "Theologisierung des Krieges". Diese Tendenzen wurden verstärkt durch die Archaisierung, Lyrisierung und Naturalisierung gesellschaftlichen Handelns. Und durch einen Kult der Organisation, der den Eigenwert des Individuums verdrängen oder ganz erdrücken sollte. Jeder Einzelne, schrieb Friedrich Meinecke am 4. August 1914, "hat sich von jetzt an nur noch als ein Stück der großen Armatur des Staates zu betrachten."

Zu den Entlastungsstrategien, mit der die späteren Bewunderer die Irrtümer der Großen im Nachhinein zu exkulpieren suchten, gehört der Verweis auf die "Zeitgebundenheit" der Äußerungen. Flasch nimmt diesem ohnehin recht schwachen Argument das letzte bisschen Grund, indem er an Andersdenkende erinnert, etwa an Hugo Ball, Karl Kraus, Theodor Haecker oder an die zu Unrecht vergessene Deutschfranzösin Annette Kolb, der er in einer längeren Zwischenpassage ein schönes Denkmal setzt.

Überhaupt ist die Kriegsbegeisterung, die im August 1914 nicht nur einen bestimmten Typus des Intellektuellen, sondern angeblich das ganze Volk erfasst hat, eine jener Legenden, die bis heute im medialen Gedächtnis und selbst noch in der historischen Fachwelt überleben. Die Fotos von blumengeschmückten Waggons voller fröhlicher Landser, die gern zur Illustrierung dieser Legende benutzt werden, dienten schon damals als Propaganda-Ikonen und sollten deshalb nicht quellenunkritisch mit der wirklichen Stimmung unter den Arbeitern und in den ländlichen Regionen verwechselt werden. Der bellizistische Enthusiasmus war ein städtisches Phänomen und dort vor allem auf die Mittelschichten konzentriert. Jedenfalls kann von einhelliger Kriegsbegeisterung des ganzen Volkes nicht gesprochen werden, weder in Deutschland noch bei seinen Gegnern.

Des weiteren hat neuerdings der junge Oxford-Historiker Niall Ferguson in seiner Studie "Der falsche Krieg" (deutsche Ausgabe 1999) darauf hingewiesen, dass selbst der deutsche Generalstab, der diesen Krieg im August 1914 unbedingt gewollt hat, nicht begeistert, sondern besorgt in den Kampf gegangen ist. Eine ähnliche Haltung nahmen die großen Bankiers ein, die den Zusammenbruch des europäischen Finanzsystems vorhersahen. Demnach kann die Selbstmobilisierung vieler akademischer Doyens nicht als nachgebendes Teilnehmen an allgemeiner Verblendung entschuldigt werden. Indem sie als Propagandisten zu den Fahnen riefen, desertierten sie als Intellektuelle.Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Ein Versuch. Alexander Fest Verlag, Berlin 2000, 447 Seiten. 39 DM

Bruno Preisendörfer

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