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Der achtjährige Sebastian (Finn Freyer) folgt bei seinen Streifzügen durch die Stadt einem Kindheitssound.

© Dejavu Film

Jugenddrama in der Provinz: Ein Schlüsselkind träumt vom Fliegen

Ceylan Ataman-Checa vermeidet in seinen Debüt "Sebastian springt über Geländer" die typischen Topoi des Coming-of-Age-Films.

Wenn man mit der Hand die Stäbe eines Geländers entlangfährt, entsteht dieser metallische Klang, den wohl alle aus ihrer Kindheit kennen: „toktoktok“. Mit diesem Geräusch beginnt das bemerkenswerte Coming-of-Age-Drama „Sebastian springt über Geländer“.

Der Junge (Finn Freyer) lehnt angeödet am Absperrgitter seiner Schule, das Kinn in die Hände gestützt, er wartet auf die Mutter. Schließlich läuft er die Stäbe entlang und erzeugt diesen Kindheitssound, lehnt sich wieder ans Geländer. Und springt irgendwann einfach darüber.

Sebastian hätte man früher ein „Schlüsselkind“ genannt. Zwischen Verwahrlosung und Selbstständigkeit wuchsen noch in den achtziger Jahren die Kinder Alleinerziehender auf. Genau in dieser Ära beginnt „Sebastian springt über Geländer“, optisch definiert durch den damals obligatorischen, neonbunten Scout-Schulranzen.

Ein weiteres Signum der Zeit sind seine langen Haare. Sebastian sieht aus, als wäre er geradewegs aus Hark Bohms Halbstarkendrama „Nordsee ist Mordsee“ (1976) gekommen. Doch anders als bei Bohm kommt der Junge nicht auf Abwege, dazu ist Sebastian zu beharrlich. Und genau dort, an diesem Geländer, entsteht auch ein Traum: einmal zu fliegen.

Blick durch die Gitterstäbe des Lebens

Das Geländer vor der Schule ist so auch nicht die letzte Hürde, die Sebastian in seinem Leben nehmen wird. In einer Langzeitstudie erzählt der in Berlin lebende Regisseur Ceylan Ataman-Checa vom Aufwachsen, lässt seinen Protagonisten Kindheit, Jugend und junges Erwachsenenalter durchlaufen, was ein wenig an Richard Linklaters „Boyhood“ erinnert.

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Der große Bogen erlaubt, Situationen und Motive wiederkehren zu lassen und dem Leben eine innere Struktur zu geben, die „man im Moment nicht greifen kann“, so Ataman-Checa im Gespräch am Telefon. „Sebastian springt über Geländer“ ist sein Langfilmdebüt an der Berliner Filmhochschule dffb, seine Premiere hatte er auf dem internationalen Festival von Rotterdam, kurz vor der Coronakrise.

Der Titel ist auch eine Metapher für die Erzählweise, Zeitsprünge lassen Erlebnisse zu lebenslangen Erinnerungen werden. „Wenn Sebastian als Erwachsener freihändig Fahrrad fährt, bereitet er sich auf den Breakout aus seinem Leben vor“, erklärt Ataman-Checa seinen Ansatz. Damit dies als wiederkehrendes Erinnerungsbild wahrgenommen wird, muss Zeit vergehen. „Das Gefühl dazwischen ist das Aufwachsen. Das drängt auch das Narrativ zurück.“

Produktionskollektiv aus der Filmhochschule

Der Film erzählt deshalb in „möglichst unaufgeregten Situationen“, so Ataman-Checa, aus dem Leben von Sebastian. Wie er als Kind die Mutter bei ihrer Arbeit als Altenpflegerin begleitet, dort eine Ersatz-Oma findet, wie er ein Fahrrad bekommt, damit er allein nach Hause fahren kann.

Das Rad schenkt ihm Freiheit, die ihm die „Oma“ jedoch wieder nimmt. Als Jugendlicher, jetzt gespielt von Joseph Peschko, verliebt sich Sebastian dann, was den entscheidenden, waghalsigen Sprung zu seiner Selbstbestimmtheit einleitet.

Regisseur Ceylan Ataman-Checa hat an der Berliner Filmhochschule dffb studiert.
Regisseur Ceylan Ataman-Checa hat an der Berliner Filmhochschule dffb studiert.

© Privat

Die überforderte Mutter (Ambar de la Horra) oder Egon (Andreas Sigrist), der großspurige Vater seiner Freundin, der Sebastian beim Abendessen vor eine Art Aufnahmeprüfung stellt, stecken voller Widersprüche. Die Ambivalenz der Figuren macht den Film dann auch so wahrhaftig. „Ich habe überhaupt kein Interesse an einer Sozialstudie“, meint Ataman-Checa. Wichtig sei ihm, dem Zuschauer die Mündigkeit zu lassen, ohne Sympathien festzulegen.

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Die Geschichte spielt in seiner Geburtsstadt Hannover. Realisiert wurde das Low-Budget-Projekt vom Produktionskollektiv „Demnächst auf Video“, das Ataman-Checa mit drei dffb-Studierenden gegründet hat, „weil niemand unsere Filme produzieren wollte“, wie er erzählt. Und das Budget der Hochschule nicht gereicht hätte. Eine andere Produktion des Kollektivs ist Simona Kostovas Regiedebüt „Dreißig“, das ein Jahr zuvor in Rotterdam seine Premiere feierte.

Weder Milieustudie noch Sozialdrama

Als Regisseur und Produzent tritt Ataman-Checa ebenfalls selbstbestimmt auf. „Immer wieder haben mich Fernsehsender gefragt, warum ich aus meinen Figuren keine Ausländer mache, Türken oder Spanier, nur weil ich selbst eine spanische Mutter und einen türkischen Vater habe. So gehe ich aber nicht an Filme heran.“ Auch das Genre der Milieustudie will er nicht bedienen – oder den „Berlin-Film“, der auf Festivals gut ankommt.

Der Reflex der Branche, auf Sozialdramen, Migrationshintergrund und dem Drehort Berlin positiv zu reagieren, macht sich auch am kleinen Start von „Sebastian springt über Geländer“ bemerkbar, der durch die Coronakrise zusätzlich beeinträchtigt wird.

Einen jazzigen „Kleinstadt-Funk“ nennt Ataman-Checa seinen Film. „In Hannover gibt es keine großen Gesten, aber alles hat seine Daseinsberechtigung. Viele, die in Berlin leben, kommen aus der Kleinstadt. Das Leben beginnt in der Provinz.“ So hat er mit „Sebastian springt über Geländer“ auch einen Heimatfilm gedreht, der unaufgeregt vom Gefühl erzählt, sich neue Territorien zwischen den aufgestellten Geländern zu erobern. Und über die man notfalls einfach auch mal springen muss.
Am 24. August im Soho House

Dunja Bialas

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