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Doku: Alle wollen Opfer sein

„Deutsche Seelen“: Eine Doku über die Überbleibsel der berüchtigten Colonia-Dignidad-Sekte in Chile.

Flusslandschaft im Nebel. Grüne Hügel in der Ferne. Zwischen gepflegten Rasenflächen Flachbauten im Landschulheimstil. Die Sperranlagen mit Stacheldraht und Wachtürmen sind nicht zu sehen. 400 Kilometer südlich von Santiago de Chile befindet sich das Gelände der berüchtigten Colonia Dignidad, auf dem der deutsche Pädophile und Sektierer Paul Schäfer seit 1961 über ein abgeschottetes totalitäres Miniaturreich herrschte, bis er 1996 wegen eines Haftbefehls die Flucht antreten musste. 2005 wurde er gefasst, ein Jahr später – mit einigen Mittätern – wegen Folter, Waffenbesitz und vielfachem Kindesmissbrauch zu 27 Jahren Gefängnis verurteilt. Er starb diesen April.

Etwa die Hälfte der Kolonisten blieb am Ort, der sich unter dem neuen Namen Villa Baviera vorsichtig der Außenwelt öffnete. Zu den ersten Gästen der Enklave gehörte das Filmteam um Martin Farkas, Matthias Zuder und die Journalistin Britta Buchholz. Für „Deutsche Seelen – Leben nach der Colonia Dignidad“ befragten sie vier Bewohner aus unterschiedlichen Generationen. Da ist der Veteran Kurt Schnellenkamp, der als Schäfers Stellvertreter die Geschäfte der Sekte geführt hat, und wegen Waffenhandels für die Pinochet-Diktatur zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde. Abgesessen hat er sie nie. Jetzt geriert er sich mit Unschuldsmiene als unwissendes Tyrannenopfer. Fünf seiner sieben Kinder leben in der Kolonie, Tochter Anna ist eine verschüchterte junge Frau, die ihren Papa bedingungslos unterstützt. Um einiges kritischer äußert sich der junge Mann, der in blumig antiquiertem Deutsch von körperlichen und seelischen Misshandlungen in seiner Jugendzeit berichtet. Und auch Aki Laube lebt seit seiner Kindheit in der Kolonie, er beklagt die von den Verantwortlichen betriebene Relativierung der Schuld, aber Namen will er auch nicht nennen. Wer in das Terrorsystem von Kollektivdruck, Bespitzelung, Elektroschocks, Zwangsmedikation und Gehirnwäsche hineingeboren wurde, muss sich die Distanz erst langsam und mühselig erarbeiten.

Opfer sein wollen hier alle, auch die Täter. Die Filmemacher fragen durchaus kritisch nach und stoßen besonders bei den Älteren auf die aus der deutschen Geschichte vertrauten Verdrängungs- und Rechtfertigungsmechanismen, Vergangenheitsverklärung inklusive. Doch trotz einiger erklärender Texttafeln dürfte sich das ganze Ausmaß der Lügengespinste nur denen erschließen, die sich andernorts über die verbrecherischen Verstrickungen der Sekte und besonders Schnellenkamps informieren. Es fehlt ein starkes argumentatives Gegengewicht zu den Statements aus der Binnenperspektive.

Schade vor allem, dass zwischen den Einzelgesprächen das Alltagsleben der im Umbruch befindlichen Kolonie und ihre Organisation nur schwach ausgeleuchtet werden. Eine vertane Chance. Gerade aus dem Miterleben des sozialen Agierens der Kolonisten könnte beim Zuschauer am ehesten Verständnis für das Besondere ihrer Situation entstehen. Aber so viel Konkretion ist hier offensichtlich gar nicht gewollt, man bleibt lieber allgemeinmenschlich. Silvia Hallensleben

fsk am Oranienplatz

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