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Kultur: Kirsch wie Kirsche

Ausnahmsweise möchte ich eine depressive Anwandlung öffentlich machen. Sie erwischte mich im Rathaus Charlottenburg, in dem auch eine öffentliche Bibliothek untergebracht ist.

Ausnahmsweise möchte ich eine depressive Anwandlung öffentlich machen. Sie erwischte mich im Rathaus Charlottenburg, in dem auch eine öffentliche Bibliothek untergebracht ist. Sie, ihr Zustand und was ich heute dort erlebte zog mir Mundwinkel und Schultern mit erhöhter Schwerkraft Richtung Boden.

Ich war an eines der OPAC-Terminals getreten und hatte unter dem Namen Sarah Kirsch dieses und jenes ihrer Bücher sowie elektronische Verzeichnisse zur Biografie gefunden. Mit der Sicherheit des Körpergedächtnisses bewegte ich mich in Richtung des bescheidenen Lyrik-Regals. Es war weg. Stattdessen fand ich dort die erweiterte Rubrik Literaturwissenschaft.

Ich ging an ein anderes Terminal, schaute noch einmal nach und bewegte mich dann zum Stellplatz der angegebenen Signatur, und zwar nicht unter der Rubrik „Aktuelle Romane“, auch nicht bei „Unterhaltung“, ich ging direkt zu „Klassik und Moderne“. Fehlanzeige. Eine Dame – ich nahm wegen ihres Sitzplatzes an, eine Bibliothekarin vor mir zu haben – wusste gleich, dass es das Lyrikregal nicht mehr gebe, war aber bereit, den Namen der Autorin, den ich ihr nannte, in ihr Terminal einzugeben. Sie fragte nach der Schreibweise. Sie fand nichts. Ich sagte, ich hätte da aber eine ganze Liste gesehen. „Kirsch wie Kirsche“, sagte ich noch einmal. Sie buchstabierte den Vornamen – „S – a – h …“ falsch, ich half ihr. Es sei nicht ihr Fachgebiet, merkte sie an. Da sei nichts mehr. Wohin denn die Bücher gingen, fragte ich sie, schon resignierend, ergebnislos. „Ausgeschieden“ war die Fachvokabel, die ich noch vernahm.

Nun will ich nicht behaupten, ich wüsste nicht Bescheid. Die Bestände öffentlicher Bibliotheken schrumpfen, das Personal auch. Die Medien, ob Bücher oder nicht, werden über einen Scanner ausgeliehen und nach Gebrauch in ein intelligentes Loch zurückgeschoben. Dass ich das sogenannte Lyrikregal überhaupt noch gesehen hatte in meiner zehnjährigen Charlottenburger Karriere, sprach für meinen rückwärtsgewandten, quasi antiquarischen Orientierungssinn. Was die Depression auslöste, war sowieso etwas anderes: Eine der größten lebenden Dichterinnen deutscher Zunge, die lange in dieser Stadt lebte, ist in einer Bibliothek in Berlin unauffindbar. Und ihr Name nicht bekannt.

Uwe Kolbe sucht in Charlottenburg nach Lyrik

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