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Wenn die Erde aufreißt. Das ausgetrocknete Flussbett des Gan Jiang, einem Zufluss zu Chinas größtem Süßwassersee Poyang Hu in der Provinz Jiangxi (August 2022).

© REUTERS / THOMAS PETER

Klimakatastrophe und Spiritualität: Warten auf den globalen Panikpunkt

Der Philosoph Thomas Metzinger fordert eine neue „Bewusstseinskultur“ im Angesicht der planetaren Krise.

Von Gregor Dotzauer

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Nostradamus und seine finsteren Exegeten braucht schon lange keiner mehr. Wo der unheilschwangere Blick in die Glaskugel einst das Geschäft von Obskurantisten war, hat er heute eine wissenschaftliche Grundlage. Die Erhellung unserer schwindenden Zukunft unterliegt zwar vielen Unwägbarkeiten, doch allein die Menge der irreversiblen Prozesse, von der Erderwärmung bis zur Abnahme der Biodiversität, kündet nur allzu deutlich von der Hinfälligkeit dieser Welt. Wie soll sich eine Menschheit verhalten, der früher oder später nicht mehr zu helfen ist? Wählt sie die Schweizer Lösung und schluckt tödliche Pillen? Oder sollen die letzten Überlebenden auf Erden zusperren und im All eine neue Heimat finden?

Die Übergangszeit bis dahin ist vielleicht die noch größere Herausforderung. Denn: „Wie bewahrt man seine Selbstachtung in einer historischen Epoche, in der die Menschheit als ganze ihre Würde verliert?“ Das gehört nicht zum Typus der Fragen, die sich analytische Philosophen für gewöhnlich stellen.

Doch die neue „Bewusstseinskultur“, die Thomas Metzinger im Titel seines jüngsten Buches als Haltung empfiehlt, hat eine psychohygienische Dimension, ohne die sein eigenes „Erkenntnisprojekt“ so wenig Bestand hat wie jedes andere: „Realistisch betrachtet sind unsere Handlungsoptionen mittlerweile nur noch auf Schadensbegrenzung und ein möglichst intelligentes Krisenmanagement beschränkt.“

Experimente am eigenen Leibe

Thomas Metzinger, 1958 in Frankfurt am Main geboren und zuletzt gut zwei Jahrzehnte Professor in Mainz, ist ein international renommierter Philosoph des Geistes – und wohl derjenige, der das Phänomen des Bewusstseins interdisziplinär und empirisch wie kaum ein anderer erforscht hat. Und das nicht zuletzt am eigenen Leibe: Aus dem jungen Mann, der offen war für  Drogenexperimente, wurde ein Langzeitmeditierender, der sein Ich-Bewusstsein immer wieder zugunsten eines reinen Bewusstseins ablegt.

Das subjektive „Jemand-Sein“ hält er, wie er in seinem Buch „Der Ego-Tunnel“ schreibt, für eine Innerlichkeitsillusion, und das „Being No One“, wie die akademische Publikation heißt, die dieser Illusion auf den Grund ging, die Tatsache, mit der es sich abzufinden gilt. Mehr noch: Es gilt sich in diesem Niemand-Sein einzurichten, als einem Zustand, in dem „nicht ein bestimmter, verdinglichter Inhalt von einem erlebenden Selbst angeschaut wird, sondern in denen das reine, mit sich selbst vertraute Gewahrsein das ist, was schaut – selbsterkennend und ohne jedes Ich-Gefühl, in einem nicht-dualen Zustand.“

Metzingers Plädoyer für eine Bewusstseinskultur lässt sich nicht einfach in ein Set von Regeln übersetzen. Auf dem Fundament eines Kritischen Rationalismus, den er als Voraussetzung einer „intellektuellen Redlichkeit“ betrachtet, die der planetaren Krise ungehindert ins Auge blickt, geht es zunächst um eine Verbreiterung unserer Selbsterfahrung.

Was, fragt er, sind gute mentale Zustände, was sind schlechte? Und wie wirken sich Medikamente und Psychotechniken auf sie aus? Als „neuer Zweig der angewandten Ethik“ sucht die Bewusstseinskultur Orientierung zwischen den Verführungskräften einer technologisch angeheizten Aufmerksamkeitsökonomie und den paradiesischen Versprechungen der Künstlichen Intelligenz.

Rabenschwarze Vision

Metzingers überwiegend nüchterner, nachrichtlich dürrer, manchmal fast formelhafter Ton vermittelt nur unzureichend, wie rabenschwarz seine Vision ist. Denn er prophezeit einen „globalen Panikpunkt“, an dem die Unabwendbarkeit der Klimakatastrophe nicht nur intellektuell, sondern auch emotional realisiert werden wird.

„Wir werden“, prognostiziert er, als hätten die entsprechenden Prozesse nicht längst eingesetzt, „eine starke Zunahme des Öko-Terrorismus sowie das Entstehen von immer neuen Verschwörungstheorien, von Populismus und neuen religiösen Bewegungen beobachten; wir werden große Migrationsbewegungen und natürlich auch militärische Konflikte rund um den Globus erleben.“ 

Und als wollte er das Eintreten dieses Panikpunkts beschleunigen, fordert er geradezu zu gezieltem Pessimismus auf: „Zweckoptimismus führt mittelfristig fast immer zu emotionalem Ausbrennen und zu einem Gefühl der Verbitterung, denn es handelt sich dabei um eine gezielte und vorsätzliche Verzerrung des eigenen inneren Modells der Realität.“

Die trügerisch voraussetzungslose Lesbarkeit seines Buches gibt darüber hinaus oft nur in den Anmerkungen preis, wie viel theoretisches Beiwerk sich hinter so manch unschuldig klingendem Satz verbirgt. Wie nebenbei taucht da der Effektive Altruismus auf, dem sich Metzinger verpflichtet fühlt. Eine Denkschule, die das Leid in der Welt systematisch vermindern will, unter anderem, indem ihre Anhänger zehn Prozent ihres Einkommens an Organisationen spenden, die über Almosen hinaus langfristig Hilfe versprechen.

Gescheitertes Moratorium

Auch nur im Vorübergehen erfährt man, dass er die Möglichkeit von synthetischem Bewusstsein nicht ausschließen kann und will. Metzinger, der als Teil einer Brüsseler Kommission daran scheiterte, ein Moratorium zur Entwicklung künstlichen Bewusstseins zu verhängen, scheut zwar das Hurra von KI-Forschern, die sich vor dem baldigen Durchbruch wähnen, lehnt aber deren moralische Hemmungslosigkeit ab: „Manche Menschen fürchten sich vor einer unkontrollierten Intelligenzexplosion in Maschinen, übersehen dabei aber, dass es auch eine Explosion bewussten Leidens auf postbiotischen Trägersystemen geben könnte. Wenn künstliche Systeme phänomenale Zustände entwickeln, wenn sie einmal echte subjektive Erlebnisse haben sollten, dann entsteht auch die Möglichkeit für Schmerz oder negative Gefühle.“ Man wird die Dimension dieser Überlegungen erst verstehen, wenn man sich den Aufsätzen widmet, die hier keinen unmittelbaren Eingang gefunden haben.

Seine Hoffnungen ruhen auf der Entwicklung einer aufgeklärten, mit wissenschaftlichen Erkenntnissen vereinbaren „säkularen Spiritualität“. Während er jede Form von dogmatisch gestütztem Glauben als „vorsätzliche Kultivierung eines Wahnsystems“ ablehnt, also auch die christliche Religion, betrachtet er das „ethische Prinzip der intellektuellen Redlichkeit“ als „Sonderfall der spirituellen Einstellung“.

Adaptive Wahnsysteme

Das Wort Spiritualität sollte niemanden schrecken. Metzinger legt Wert darauf,„dass vieles, was heute unter dem Deckmantel der Spiritualität auftritt, nichts anderes als Religion in diesem – zugegebenermaßen stark vereinfachten – Sinne ist.  Bewusstseinskultur würde dagegen bedeuten, den Begriff der Spiritualität endlich zurückzuerobern und von seinem Missbrauch durch die Vertreter adaptiver Wahnsysteme zu befreien.“ Und er leugnet nicht, „dass zumindest in sehr seltenen Fällen innerhalb der großen, erstarrten Religionen kleine Nischen existieren, in denen es zu vorsichtig tastenden Suchbewegungen kommt.“

Als leuchtendes Vorbild für die Vereinbarkeit von wissenschaftlicher Rationalität und Spiritualität nennt er insbesondere Karl Popper. Dessen „streng erfahrungsbasierte Suche nach formaler Eleganz und Einfachheit“ treffe den Kern ernsthafter spiritueller Praxis. In Kontakt mit der Wirklichkeit, paraphrasiert er ihn, „sind wir immer genau in dem Moment, in dem wir eine Hypothese falsifizieren.“ Oder in Metzingers eigenen Worten: „Der Moment des Scheiterns ist der Moment, in dem wir die Welt berühren.“

Internationale Instanz. Der Philosoph Thomas Metzinger.

© Veysel Çelik | AVA Arthouse Studio

Thomas Metzinger denkt politisch genug, um im Profitstreben großer Konzerne entscheidende Hindernisse für ein Umdenken zu sehen. Diesem steht der ganz normale Wachstumskapitalismus im Weg, der seine expansiven Bestrebungen unter dem Sorglosigkeitssiegel des Green Deal verkauft. Aber auch das Suchtpotenzial sozialer Medien torpediert eine vernünftige Selbstvergewisserung.

Ein Manko seines Plädoyers für eine Bewusstseinskultur, die über Achtsamkeitsseminare hinausgeht, liegt darin, wie wenig er berücksichtigt, dass der Sinneswandel ja nicht mit einem Verzicht auf konkrete Vorsorge einhergehen kann. Inmitten der planetaren Krise gibt es einen weitreichenden supranationalen Regelungsbedarf. Er umfasst die Einhegung von Umweltschäden wie Gerechtigkeitsfragen, zu denen auch Philosophen einiges beizutragen haben.

Wir werden eine starke Zunahme des Öko-Terrorismus sowie das Entstehen von immer neuen Verschwörungstheorien, von Populismus und neuen religiösen Bewegungen beobachten.

Thomas Metzinger

Darüber könnte man sich mit Metzinger sicher schnell einig werden. Generell fehlt der „Bewusstseinskultur“ jenseits des Appellativen aber eine zündende Idee, wie man sie politisch-institutionell verankern könnte. Welche Parteien und Organisationen werden sich dafür stark machen?Welche Studienfächer greifen Metzingers säkulare Spiritualität auf? In welche Lehrpläne soll sie eingebettet werden? Welchen Widerstand werden die Kirchen leisten?

Schließlich lässt Metzinger offen, wo die Grenze zwischen Zweckoptimismus als nützlicher Illusion und schädlicher Selbstblockade verläuft. Mit anderen Worten: Wo schlägt die Erkenntnis des Unausweichlichen in Fatalismus um? Dabei mag sich die Perspektive eines gesellschaftlichen Kollektivs von der des Einzelnen gewaltig unterscheiden. Ja es könnte sein, dass die beiden Sichtweisen letztlich nicht miteinander zu vereinbaren sind.

Die Dringlichkeit von Thomas Metzingers Anliegen wird davon nicht beeinträchtigt. „Wenn sich die planetare Krise weiter zuspitzt“, schreibt er, „steht plötzlich die Rechtfertigung aller bestehenden Regeln und Strukturen auf dem Spiel. Dann sind es die staatlichen Institutionen selbst, die in der öffentlichen Wahrnehmung ihre Legitimität verlieren. Was wiederum das Risiko für ein Erstarken populistischer Strömungen erhöht.“ Das hört sich alles andere als nach einer fernen Zukunft an.

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