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Konzertkritik: Lass die Tränen fließen

Der New Yorker Soulsänger Charles Bradley gibt ein bewegendes Konzert im Berliner Astra.

Um halb zehn betreten sechs junge Männer die Bühne des Astra, die so aussehen, als würden sie am Wochenende bevorzugt in Kreuzbergs Kneipen zum Tanz aufspielen: verschlissene Anzüge, Cordwesten, Bier in der Hand. Der Keyboarder kündigt den „screaming eagle of soul“ an: Charles Bradley breitet die Arme wie Flügel aus und schwebt herein. Der Sänger ist ein Ereignis. Er bringt Neil Youngs „Heart of Gold“ zum Leuchten und ist immer dann am stärksten, wenn er in Balladen vom eigenen Leben berichtet. Gerade mal ein Jahr ist es her, dass dem 64-Jährigen mit seinem Debütalbum „No Time For Dreaming“ der Durchbruch gelang. Vorausgegangen waren Jahre als Obdachloser in New York, die Aufnahme in ein Sozialhilfeprogramm mit Ausbildung zum Koch und gut 30 Jahre am Herd diverser Restaurants. Das prägt.

Mit rollenden Augen singt, nein, schreit und klagt Bradley von Einsamkeit, Ausgrenzung und Armut. Happy End inclusive. Es ist die abgewandelte Geschichte vom amerikanischen Traum. Für Charles Bradley ging er in Erfüllung, als das Brooklyner Daptone-Label ihn entdeckte und eine Platte mit ihm aufnahm. Mit diesen Songs ist er jetzt auf Tour.

„Hört doch auf zu klatschen, sonst muss ich weinen“, bittet er – allein, es hilft nichts. Die 1300 Gäste im fast ausverkauften Astra feiern ihn, bejubeln jeden Griff in den Schritt und staunen über einen lupenrein gesprungenen Spagat. Sein Outfit – Schlaghose, goldene Gürtelschnalle und ein blaues Jäckchen mit aufgestickten Initialen – sieht aus, als stamme es noch aus der Zeit, in der Bradley als James-Brown-Double durch New Yorks Soulschuppen tingelte.

„Why is it so hard to make it in America“, fragt Bradley beim letzten Song, geht von der Bühne und mischt sich unter die Zuschauer. Und dann ist es auch dort vorbei mit der Beherrschung. Die Band hat längst eingepackt, da wird Bradley noch immer durchs Publikum geschoben. Der Mann hat einen Nerv getroffen. Junge Männer verlieren die Contenance, fallen ihm um den Hals, Küsse, Umarmungen. Schluchzend macht sich Bradley schließlich frei und verschwindet in einem Gang neben der Bühne. Dort steht der kleine Mann, schlägt die Hände vors Gesicht, laut weinend.

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