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Kultur: Kraut und Üben

Du bist die Performance: Off-Theater-Marathon „100° Berlin“ mit 100 Gruppen

Falls wir es beim Festival „100° Berlin“ tatsächlich mit einem dramatischen Trendsetter zu tun haben, können sich künftige Zuschauergenerationen schon mal wehmütig von der Parkett-Position verabschieden. Der erste erkennbare Trend lautet eindeutig: „Du bist die Performance“. Worauf der Theatergänger im Foyer des HAU 1 stößt, ist ein mürrischer Türsteher, dem die Zutrittshoheit über eine exklusive Einpersonendiskothek obliegt. Wer die Gesichtskontrolle schafft, wird in eine Fünf-Quadratmeter-Nische geschoben. Hier entlocken eine Barfrau, ein DJ und eine VJane in branchenüblichem Autismus ihren Arbeitsgeräten zwar ansehnliche Getränke, schmissige Musik und hippe Videos, aber fürwahr: Wer sich hier nicht, wie es die Anfeuerungskampagne fröhlich fordert, selbst „Feuer unterm Hintern“ macht, tritt sehr schnell sehr verloren von einem Fuß auf den anderen und sucht schon bald das Programmheft nach Alternativen ab.

Ohne Zuschauerinitiative läuft aber auch bei der Polit-Performance „Argus“ von Niels Kuvrin nichts, der sein Lager im Hof der Sophiensäle, der zweiten Spielstätte, aufgeschlagen hat. Hier wird man mit dem gesammelten Zeichenarsenal von Militär und Krieg konfrontiert, kann sich rekrutieren lassen und darf auf offener Szene Gesinnungstests sowie Schießübungen absolvieren.

Gehört man hingegen zu jenen, die nicht unter allen Umständen zum Regisseur und Alleindarsteller avancieren wollen, sieht man sich – so die zweite Erkenntnis des Off-Marathons – immensen Qualitätsschwankungen ausgesetzt. Die basisdemokratische Grundidee des Szene-Marathons, den das Hebbel am Ufer und die Sophiensäle dieses Jahr bereits in dritter Auflage mit gigantischem Engagement und logistischer Höchstleistung ausrichten, besteht darin, dass hier ausnahmslos jeder auftreten darf, der sich rechtzeitig angemeldet hat.Die über hundert Gruppen rangieren zwischen renommierten Szene-Profis und der Stadtteilhobbybühne.

Zu sehen bekommt man sämtliche Genres und Sujets. Das reicht von Genets „Zofen“ über den ganzen Schiller mit Barbie-Puppen oder eine Art Fortschreibung der „Drei Schwestern“, welche uns die wenig überraschende Erkenntnis beschert, dass Olga, Mascha und Irina auch anno 2006 noch nicht aus dem Knick gekommen sind, bis hin zu unglaublich witzigen, tadellos durchchoreografierten Szenen aus einer Art Heiratsvermittlung, wo zwei klemmige Herren im Klangholztakt einer gestrengen Dame emsig um Aktenberge herumspringen.

Die Rahmenbedingungen – jede Gruppe hat dreißig Minuten Zeit für den Bühnenaufbau und maximal sechzig für die Performance – zeitigen einen schönen, ungewollten Nebeneffekt. Sie zwingen zum Verzicht auf Technik- und Requisitenorgien, mit der darstellerische Defizite gern übertüncht werden. Man darf den Beiträgen am letzten Festivaltag – beispielsweise Schillers „Räubern“ als Breakdance-Theater oder der exotischen „Braut 2“, die auf einem roten Sofa ihr weißes Kleid aufzuessen verspricht - optimistisch entgegensehen.

Noch heute im HAU 1-3 und in den Sophiensälen, 16-24 Uhr.

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