zum Hauptinhalt

Was machen wir heute?: Kröten suchen

Wie ein West-Berlinerdie Stadt erleben kann.

Sie hieß Emma, ihr Gesicht ähnelte dem einer gutmütigen Kröte. Emma sah für mich aus wie 80, war aber eher um die 50, putzte einmal die Woche unverdrossen unsere Wohnung am Stadtpark Schöneberg. Sie selbst kam aus Kreuzberg, einer mir unbekannten Ecke der Stadt. Eines Tages nahm mich meine Mutter mit nach Kreuzberg zu Emma, weil die plötzlich nicht mehr kam und kein Telefon hatte, um Auskunft zu geben.

Emma wohnte in einer Straße mit dem unglaublichen Namen Naunyn. Weiß noch jemand, wie die Naunynstraße in den 60er Jahren aussah? Grau und düster. Auf der Straße waren fast nur alte Leute mit Krückstöcken unterwegs. Die Häuser hatten zig Höfe hintereinander, im Vorderhaus Parterre wohnte Emma. Ihre kleine Wohnung war wie eine Höhle. Emma sagte, sie lehne oft am Fenster, um es hell zu haben. Mir tat Emma leid, und ich schämte mich, dass sie bei uns Putzen ging. Was wusste ich schon von ihrem Leben! Vielleicht hatte sie viel zu oft kummervoll das Gesicht verziehen müssen, dass es wie eine Kröte aussah. Ich glaube, Emma war damals auf irgendeine Art krank geworden und konnte deshalb nicht mehr arbeiten. Sie schenkte uns zwei Äpfel und weinte ein wenig.

Wenn mich der Weg nach Kreuzberg führt, gehe ich immer wieder durch die längst sanierte Naunynstraße und freue mich, wie bunt das Leben hier geworden ist. Komme ich an Emmas altem Haus vorbei, grüße ich still, schaue auf ihr Fenster, als käme ihr Gesicht über den Graffiti doch noch zum Vorschein. Sie wohnt nicht mehr hier, ist vermutlich längst ein Engel. Beim Spaziergang werde ich magisch vom nahen Engelbecken angezogen, das damals als Kanalrest weithin unbekannt und verschüttet hinter der Mauer im Osten lag. Inzwischen ist aus dem einstigen Mauergelände ein tolles Gewässer mit schönen Häusern ringsum geworden. Eine neue Welt. Ich wünsche, Emma hätte sie noch miterlebt. Christian van Lessen

Am Engelbecken, Michaelkirchplatz, gibt es direkt am Ufer ein Café. Von hier aus lassen sich kleine Schildkröten im Wasser beobachten.

Christian van Lessen

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false