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© Berta PR+Produktion

Lasst mich leben: Theater als Schutzraum und Zukunftslabor

Vor über 30 jahren wurde die UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert. Das Theaterprojekt „Rights for Children“ von Regisseur Alexander Weise prüft, ob sie noch zeitgemäß ist und wie es um ihre Umsetzung steht.

Von Sina Möst

„Ich will leben Leute, bitte lasst mich endlich leben.“ Händeringend, die Arme gehoben, steht Regisseur Alexander Weise auf der Bühne. Danach ist es erst einmal still im Raum, bis er die Spannung löst. Weise tritt von der Bühne und bittet die Darsteller:innen die Szene zu wiederholen. „Ich will leben Leute, bitte lasst mich endlich leben.“ Die 15 Kindern und Jugendlichen sprechen seine Worte nicht nach, sondern bringen sie nur mittels ihrer Körpersprache zum Ausdruck. Ihre Sensibilität erzeugt eine Gänsehaut, auch bei Weise selbst. Über Monate haben die Darsteller:innen zwischen sieben und 25 Jahren mit ihm geprobt und ihr Stück „Rights for Children“ entwickelt, sich selbst und die anderen, ihre Wünsche und Rechte immer besser kennengelernt. Ohne Hierarchien treten auf, sie setzen die UN-Kinderrechtskonvention um, künstlerisch und im Umgang miteinander.

„Die Vertragsstaaten achten die in diesem Übereinkommen festgelegten Rechte und gewährleisten sie jedem ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Kind ohne jede Diskriminierung unabhängig von der Rasse, der Hautfarbe, dem Geschlecht, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen, ethnischen oder sozialen Herkunft, des Vermögens, einer Behinderung, der Geburt oder des sonstigen Status des Kindes, seiner Eltern oder seines Vormunds.“ (Artikel 2, 1)
Der formelle Gesetzestext ist bewusst Teil der Performance. Seine Verwendung macht klar: Die Rechte der Kinder werden hier unverhandelbar eingefordert. Von den Erwachsenen. Das hier ist kein Kinderspiel.

„Nein!“ Schauspieler Andrei Tacu, der einzige Erwachsene auf der Bühne schleudert seine Sätze heraus, als würde er kräftig mit der Faust auf den (Stamm)tisch hauen. Auf der Bühne ist er der Gegenspieler des jungen Ensembles. Desillusioniert zählt er Beispiele des Versagens der Menschheit auf und gibt hemmungslos unausgesprochene egoistische Ansichten der Erwachsenen von sich (Text: Marcel Luxinger). Der Mensch sei halt von Grund auf bösartig: „Bedauerlich, dass man mit dieser negativen Energie nicht heizen kann.“

Schauspieler Andrei Tacu gibt dem vorwärts stürmenden jungen Ensemble auf Bühne contra.
Schauspieler Andrei Tacu gibt dem vorwärts stürmenden jungen Ensemble auf Bühne contra.

© Thorsten Fleischhauer

Was sind die Vorstellungen und Versprechen noch wert in einer Welt, die gerade so im Umbruch ist? Diese Frage stellte sich Alexander Weise im Zuge der Pandemie, als eine Welle des Hinterfragens geltenden Rechts und seiner Umsetzung, Deutschland erfasste. Tacus desillusionierenden Passagen steht die Einheit des hoffnungsvollen Chores der Kinder und Jugendlichen gegenüber, dei auch einzeln in expressiven Monologen auftreten.

Diese Passagen sind an persönliche Erfahrungswerte der Jugendlichen geknüpft, wodurch sie das Publikum auf emotionaler Ebene abholen. Die Darsteller:innen legen ihre privaten Gefühle und Gedanken in ihre Stimmen. Ari sieht darin seine Stärke, er hat seine Leidenschaft im Gesang gefunden. Ari verarbeitet beim Singen all seine Gefühle, aber auch seine Traumata. In seiner Kindheit wurde er Opfer häuslicher Gewalt und sowohl körperlich als auch sexuell und psychisch misshandelt. Die Musik hat ihm geholfen seine Vergangenheit zu verarbeiten.

In seinem Monolog beschäftigt sich Ari mit dem Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit. Er war nicht verpflichtet das zu tun, er wollte es. Die Auseinandersetzung damit war nicht leicht für ihn: „Zuhause bin ich allein mit dem Text und laufe Gefahr mich in meinen Gedanken zu verlieren.“ Die Proben erlebt der 21-Jährige hingegen als angenehm und sie breiteten ihm Freude: „Auf der Bühne ist alles in neutraler Spannung, konzentriert auf die Körpermitte, das bringt dich in deinen persönlichen und sicheren Headspace.“ Die Gruppe würde eine entscheidende Rolle für dieses Empfinden spielen, erzählt er, denn unter den Jugendlichen haben sich durch die gemeinsame Theaterarbeit innige Freundschaften und ein vertrautes Verhältnis aufgebaut.

„Familiär, wie unter superengen Cousins“, so beschreibt Caya das Verhältnis der Gruppe, die auch sie als Schutzraum wahrnimmt. Die 21-Jährige kommt ursprünglich aus einem kleinen Dorf in Sachsen-Anhalt, doch schon immer sehnte sie sich nach der kulturellen Vielfalt in Großstädten. „Schöngeist“ nennt ihre Mutter sie daher liebevoll, die stets an der Seite ihrer Tochter ist und sie auf ihrem Weg unterstützt.

Berlin hat ihr die Freiheit geschenkt, nach der sie sich lange sehnte. Besonders genießt sie den „Dualismus aus verloren gehen und sich dabei selbst finden und stärken.“. Auf dem Dorf war es nicht möglich unbeachtet zu bleiben, das störte Caya. In ihrer Kindheit und Jugend fühlte sie sich nach ihrem Outing als trans Person auf ihre Sexualität reduziert. Die Theaterbühne möchte sie nutzen, um ihre Geschichte zu erzählen. Als Alexander Weise ihr die Möglichkeit bot, einen Teil ihres Monologes selbst zu schreiben, nahm die 21-Jährige sofort an. Ihre Kernaussage: „Unser Leidensweg ist menschengemacht durch die bestehenden Gesetze.“ Dass trans Menschen automatisch an sich selbst leiden würden, sei ein fataler Irrtum.

Aliou fordert eindringlich sein Recht auf ein sicheres Leben ein.
Aliou fordert eindringlich sein Recht auf ein sicheres Leben ein.

© Berta PR+Produktion

Auch Aliou möchte mit seiner Teilnahme bei „Rights for Children“ eine klare Message setzten. Der 16-Jährige ist vor zehn Monaten gemeinsam mit seinem Onkel aus Guinea nach Deutschland gekommen und wurde durch seine Schule auf das Projekt aufmerksam. Theater und Tanz haben für ihn eine besondere Bedeutung: Sie verbinden ihn mit seinem Heimatland. In Guinea ist vor allem der Tanz ein wichtiger Bestandteil der Kultur. Weise erkannte diesen persönlichen Bezug Alious und fördert seine Stärke der Übertragung von Emotionen durch dynamische, kraftvolle Bewegungen als sein Ausdrucksmittel. Mit seinem Monolog möchte Aliou auf die Themen Flucht und Migration aufmerksam machen. Er fordert Toleranz und Respekt der Gesellschaft und sein Recht auf ein sicheres Leben in Deutschland. 

Alexander Weise lag es sehr am Herzen, auch Menschen mit Behinderung auf seine Bühne zu holen. Selbst wenn das Theater Thikwa oder das RambaZamba Theater starke Akzente in der Berliner Theaterlandschaft setzen, oftmals „habe man das Gefühl es gäbe sie gar nicht“, sagt Weise. Damit gibt er nicht nur den Magdalena und Thibaud eine Möglichkeit der Selbstexpression, sondern ihre Darbietungen schenken auch dem Publikum Glücksmomente. Nach einem gelungenen Durchgang seines Monologes ist Thibaud so begeistert, dass eine Wiederholung der Szene außer Frage steht. Es wäre ein Verlust für unsere Gesellschaft, wenn er nicht gehört und gesehen würde. Dass Diversität die Gemeinschaft stärkt, dass das Individuum in einer respektvollen Gruppe gewinnt, macht „Rights for Children“ ganz unmittelbar deutlich. Die völlige Verausgabung der jugendlichen Performer:innen zeigt aber auch, dass die Geduld der nächsten Generation nicht unendlich und die Kraft der nächsten Generation nicht grenzenlos sind.

Eine Szene berührt Regisseur Alexander Weise selbst immer wieder aufs Neue: Die Kinder stehen aneinander gelehnt in einer Reihe, die Musiker (David Schwarz und Christian Kohlhaas) spielen eine rührende Melodie dazu. Die Deckenprojektion von Stefano di Buduo zeigt weiße Vögel im friedlichen Flug. Weise flüstert: „Die Vögel sind, was wir Menschen auch sein sollten. Sie sind frei. Und losgelöst von hinderlichen Gehirnwindungen.“

Theater im Delphi, Gustav-Adolf-Str. 2, Weißensee, Tickets kosten 19 Euro, erm. 12 Euro. Weitere Vorstellungen sind für 2023 geplant. Info: www.rightsforchildren.de

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