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Bitte innehalten. Cristina Rivera Garza, bei ihrer Eröffnungsrede zum Literaturfestival.

© dpa/Soeren Stache

Lasst uns alle Atem holen: Cristina Rivera Garza und Wolfram Weimer bei der Eröffnung des Berliner Literaturfestivals

Ein konservativer Kulturstaatsminister und eine linke mexikanische Feministin: Bei der Eröffnung des 25. Internationalen Literaturfestivals Berlin entsteht da ein seltsames Zusammenspiel.

Von Gregor Dotzauer

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Kulturstaatsminister Wolfram Weimer ist ein Mann von erlesener Breite des Geschmacks. Erst vor vier Wochen nannte er Caroline Wahls Roman „22 Bahnen“ in einer persönlichen Lektüreempfehlung auf Instagram „große Literatur“. Nun hat er mit der Mexikanerin Cristina Rivera Garza, einer linken Feministin von zweifellos anderem Kampfgewicht, eine neue Leidenschaft entdeckt.

Jedem reflexhaft Konservativen müssten sich die Fußnägel hochrollen, wenn sie bei der Eröffnung des Internationalen Literaturfestivals im Haus der Berliner Festspiele auf Englisch gegen Biokapitalismus und Klimakrise, gegen ein apokalyptisches Patriarchat und einen nicht näher benannten Genozid vom Leder zieht.

Nicht so Wolfram Weimer, der nach ihren letzten Worten (und der Musik der Perkussionistin Susie Ibarra) vermeintlich spontan von seinem Sitz hochspringt und auf Spanisch erklärt, dass er hin und weg sei von ihrer Rede und nun auf sein vorbereitetes Manuskript verzichten wolle. Was sie da vorgetragen habe, sei poetisches Atmen und atmende Poesie, da könne er nicht einfach beim Protokoll bleiben. Und so purzeln ihm fragmentarische Zeilen von Hölderlin und Rilke über die Lippen.

Hyperions Schicksalslied

„Schicksallos, wie der schlafende / Säugling, atmen die Himmlischen“, zitiert er „Hyperions Schicksalslied“, das selbst eingefleischte Hölderlin-Leser kaum auf Anhieb parat hätten. Und von Rilke schießt ihm ein Orpheus-Sonett durch den Kopf: „Atmen, du unsichtbares Gedicht! / Immerfort um das eigne / Sein rein eingetauschter Weltraum. Gegengewicht, / in dem ich mich rhythmisch ereigne.“

So viel literaturgeschichtliches Spontitum und so viel Umarmung des politischen Gegners waren seiner grünen Amtsvorgängerin Claudia Roth nicht vergönnt, und auch nicht so viel Takt. Keine Politikerin, kein Politiker in der mittlerweile ein Vierteljahrhundert umfassenden Geschichte des Festivals brachte es bisher fertig, sich mit einem Ceterum censeo im Schatten der Eröffnungsrede zu begnügen.

Unverschämt und ungeduldig, wie die anderen alle waren, hatten sie frühzeitig ins Rampenlicht der Grußworte gedrängt und jeden, der das Lob der Literatur aus dem Munde von Berufenen und Erleuchteten erleben wollte, auf die Folter gespannt. Weimers neue Bescheidenheit mit dem letzten unmaßgeblichen Wort setzt da Maßstäbe.

Zweifelhafte Spontaneität

Das Festival, bei dem sich Weimers Büro den Epilog mit aller Macht ausbedungen hatte, war bei dieser glänzenden Idee mit Begeisterung dabei. Immerhin dürfte der Finanzierung durch den Bundesbeauftragten für Kultur und Medien (BKM) für die kommenden Jahre nichts mehr im Wege stehen.

Böse Zungen behaupten, dass es mit Weimers Spontanität nicht weit her gewesen sei. Er habe sich Rivera Garzas Eröffnungsrede wie diejenige von Festivaldirektorin Lavinia Frey schon am Tag zuvor schicken lassen, während er den Wortlaut seiner womöglich nie geschriebenen Rede bis zuletzt nicht preisgeben wollte.

Festivaldirektorin Lavinia Frey, Kulturstaatsminister Wolfram Weimer und Cristina Rivera Garza im Haus der Berliner Festspiele (von links).

© dpa/Soeren Stache

Neider, muss man ihnen entgegenschleudern. Besser schlecht gespielt als die hohe Kunst des Stegreifs gar nicht erst versucht. Und war die Agenda, die Weimer dann doch hörbar verfolgte, nicht auf eine Weise konsensfähig, die in unfriedlichen Zeiten jene planetare Gemeinschaft befördert, die auch Cristina Rivera Garza in einer Aufwallung liturgischer Energien mit gemeinschaftlichen, ihren Vortrag mantrahaft unterbrechenden Atemübungen beschwor: Lasst uns innehalten! Lasst uns ganz tief Atem holen! Und dann pfiff, vom Pultmikrofon verstärkt, gut und gerne ein Dutzend Mal der Wind eines Heiligen Geistes durch den Saal.

Chinesischer KI-Kolonialismus

Im Fall von Lahav Shani, dem israelischen Chefdirigenten der Münchner Philharmoniker, den ein Genter Musikfestival auslud, weil er sich angeblich nicht ausreichend vom verbrecherischen Krieg seines Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu distanziert habe, lässt sich tatsächlich nicht lange diskutieren. Gleichwohl spielt dieses maßlose Stück Cancel Culture, das durch eine Einladung des Orchesters ins Konzerthaus am 15. September kompensiert werden soll, Weimers erschreckend pauschalen, weil kontextlosen Vorwürfen, der Kulturbetrieb befleißige sich eines ungehinderten Antisemitismus, in die Hände.

Auch die Warnung vor den kolonialistischen Praktiken amerikanischer und chinesischer Techkonzerne, deren KI-Modelle Wissen ohne Rücksicht auf das Urheberrecht ausbeuten, um daraus nichtatmende Texte herzustellen, hat ihre Berechtigung. Doch letztlich wird sie weder die Regulierung durch Brüsseler Gesetze im Zaum halten, noch wird jemals ein deutsches Unternehmen wie Aleph Alpha Europas Rückstand durch Investitionen aufholen können.

Um es mit Rivera Garzas erstem, wiederum einen Anfang von Charles Dickens revidierenden Satz zu sagen: „Es war die schlimmste Zeit, es war die schlimmste Zeit.“ In Dickens‘ „Tale of Two Cities“ heißt das noch mit einem dialektischen Funken Hoffnung: „It was the best of times, it was the worst of times.“

Sonntagspredigt in finsteren Zeiten

Wie die mexikanische Autorin, die auch als Mitkuratorin des Festivals auftritt, von dieser totalen Verfinsterung der Welt dazu kommt, sich, der Spracharbeiterin, und ihresgleichen die Aussicht zu eröffnen, mit den eigenen intellektuellen Mitteln „mehr Einfluss auszuüben als je zuvor“, gehört zu einer Sonntagspredigt, die über die wachsende Bedeutungslosigkeit von Literatur im emphatischen Sinn hinwegtrösten soll.

Unterwegs zählt Garza so ziemlich alles an großen Namen auf, was ihr im Verlauf ihrer körperlichen Lektüren untergekommen ist: Miguel de Cervantes und Hermann Hesse, Juan Rulfo und José Revueltas, Virginia Woolf und Claudia Rankine. Folgt ein langer Werbeblock zum eigenen Buch, dem soeben bei Klett-Cotta erschienenen Memoir „Lilianas unvergänglicher Sommer“ über den Femizid an ihrer jüngeren Schwester.

„Lesen heißt gemeinsam atmen“, lautet das Motto der mäandernden Reflexionen, als könnte man nicht auch an Texten ersticken. Doch was will man von jemandem erwarten, bei dem jeder Gedanke zur politischen Reparatur der Welt von der Idee eines bloßen Heilens überlagert wird?

Der einzige Erkenntnisgewinn dieser seltsamen Begegnung liegt vielleicht darin, dass Weimers konservative Sorge und Garzas Untergangsangst einander bei aller Fremdheit näher sind, als sich jeder von ihnen selbst eingestehen würde. Nun gehet hin in Frieden. Und Dank sei dem Herrn vom BKM.

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