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Kultur: Lesbar, ganz ohne Beipackzettel: "Strömungsgefahr" - die grazilen Gedichte der Annemarie Zornack

Am Anfang steht, ganz harmlos, eine türkische Teekanne auf dem Tisch. Dann wirft die Kanne, von der Lampe, einen Schatten.

Am Anfang steht, ganz harmlos, eine türkische Teekanne auf dem Tisch. Dann wirft die Kanne, von der Lampe, einen Schatten. Dann erfahren wir, dass Tee in der Kanne ist, der sogleich ausgeschenkt wird - und weil das Gedicht "schattengedicht" heißt, und weil es sich um ein Gedicht Annemarie Zornacks handelt, haben wir es recht eigentlich mit "aromatischem türken / kannenschatten tee" zu tun. Bei Annemarie Zornack verwandeln sich die Dinge beim Schreiben, unter der Hand. Mäntel können in Illustrierten blättern ("im waschsalon"), Flaschen im Regal miteinander flirten ("schnapsidee"), und Zigarrenkisten zur "überfahrt ... nach havanna" taugen ("aber meine schönste reise"). Immer wieder gelingt ihr dieser leichte Ton, der so schwer zu treffen ist. "Grazile, graziöse, von zarten Einfällen lebende Texte" nannte Karl Krolow ihre Gedichte.

Nicht die Literatur, sondern das Leben sei ihre "Inspirationsquelle", bekennt Annemarie Zornack. Tatsächlich ist diesen Texten, von denen jetzt unter dem Titel "strömungsgefahr" eine neue, schöne Auswahl vorliegt, alles Demonstrativ-Intellektuelle fremd. Sie sind lesbar, auch ohne den Beipackzettel einer Poetologie. Erste Versuche kritzelte die Schwesternschülerin auf Zettelränder. Der Auswahlband "strömungsgefahr" wird eröffnet von Texten aus den 60er Jahren, das jüngste in dem Band befindliche Gedicht wurde 1998 verfasst. Auffällig ist, dass Annemarie Zornacks typischer, an der alltäglichen Rede und dem Einfach-Liedhaften geschulter Tonfall, sich in den Jahren kaum wesentlich verändert hat. Aber sie musste sich auch nie auf formal-ästhetische Experimente zurückziehen; in ihrer Kindheit, ihrer norddeutschen Heimat oder auf Reisen (oft nach Spanien) fand sie ihre Themen. Im nahen Aschersleben, ihrem Geburtsort, oder in der Sierra Nevada: für den Dichter sind "nah" und "fern" keine festen Begriffe, es kommt auf die Sinne an, und was sie wahrnehmen können von damals, jetzt oder dann.

Ein nach ihrem Geburtsort benanntes Gedicht lässt den Duft von Minze, Schafherden und eine Majoranfabrik auferstehen, um lakonisch zu enden: "mit majoran konnte man / übrigens geschäfte machen / kurz nach der währungsreform." Zornack, Jahrgang 1932, entstammt der "Kriegsgeneration": "mein versteck aber / meine laube war eine sandsack- / nische zwischen / luftschutzkellerfenstern" ("was mich rührt"). Damit ist sie nur zwei Jahre älter als eine Dichterin, der man sie am ehesten zur Seite stellen könnte, die wie Zornack "niemals / aufgehört / zu staunen" hat: die Niederländerin Judith Herzberg. Aber das Vergleichen ist so vage wie der Schatten einer Teekanne. Lassen wir das also und trinken lieber noch einen aromatischen Türkenkannenschattentee. Zum Wohl!Annemarie Zornack: strömungsgefahr. Gedichte. Eremiten-Presse, Düsseldorf 1999. 304 Seiten, 48 DM.

Volker Sielaff

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