
© Jelgava 94
Lettisches Literaturfilmfestival Berlin: In Riga, um Riga und um Riga herum
Vier Tage lang wird die Berliner Brotfabrik zum Zentrum lettischer Erzählerinnen und Erzählerinnen - auch auf der Leinwand.
Stand:
I’m an introvert“ heißt der Slogan der lettischen Literaturplattform latvianliterature.lv, mit der sie um Aufmerksamkeit für die Literatur des baltischen Landes wirbt und Übersetzungen anregt. Und das mit einigem Erfolg, zielt die Kampagne doch darauf ab, überhaupt ein modernes Image von Land und Literatur zu schaffen. Oder haben Sie spontan ein Bild, was Literatur aus Lettland sein könnte?
Bei einer Reise nach Riga 2019 durfte ich ein wenig in die lettische Literaturszene eintauchen. Während das jährliche Festival „Poesietage“ (dzejas dienas) stattfand, begegnete ich erstmals den Autor:innen, mit denen ich seitdem als Verleger zusammenarbeite. Und rasch wurde mir klar: Lettland ist vor allem ein Land der Dichter:innen.
Neben der älteren Generation – hierzulande sind vor allem Amanda Aizpuriete und Liāna Langa bekannt und verlegt– gibt es eine spannende jüngere Autoren-Generation. Zu nennen sind Arvis Viguls und Krišjānis Zeļģis zu nennen, die in der Parasitenpresse erschienen sind. Bei ihnen gibt es nüchterne Reflexionen über das Leben der Zeitgenossen, über Bodybuilder und Friseurbesuche (Viguls) oder über Autounfälle mit Tieren, unterkühlte Beziehungen oder handwerkliche Tätigkeiten (Zeļģis) bieten.
Unterhaltsame Avantgarde
Auch junge Autorinnen sind zu entdecken. Anna Belkovska war neulich Stipendiatin im Literarischen Colloquium Berlin, Madara Gruntmane wird beim Poesiefestival in Juni auftreten, Krista Anna Belševica lebt als Literaturwissenschaftlerin in Greifswald. Alle drei werden unter anderen in der im Herbst erscheinenden Anthologie „Neue Lyrik aus Lettland“ vorgestellt, die Astrid Nischkauer und Kalle Aldis Laar zusammenstellen. Außerdem gibt es die Orbita-Künstlergruppe um Semjon Hanin, der kürzlich mit einem Gedichtband in der Edition Korrespondenzen präsentiert wurde und dessen Auftritte ungemein unterhaltsam sind.
Der lettische Buchmarkt ist aus deutscher Perspektive klein. Es gibt nur ungefähr so viele Menschen, die Lettisch als Muttersprache sprechen, wie Köln Einwohner hat. Fast jeder Autor hat einen bürgerlichen Beruf, das gilt auch für die Romanautoren.
Vielleicht gibt es zwei Dinge, die die Sicht auf die aktuellen lettischen Romane ein wenig versperrt: erstens die deutschbaltische Literatur, die nur eine traditionelle Perspektive bietet. Zweitens ist die lettische Literatur in der Bewältigung der Geschichte des 20. Jahrhunderts gefangen: Leiden, Verbrechen und Verstrickungen des 20. Jahrhunderts bestimmen viele der aktuell erscheinenden Texte, die sich z.B. mit der Zwischenkriegszeit, mit der ersten Unabhängigkeit und den Verbrechen der Nazi- und Sowjet-Zeiten auseinandersetzen.
Metalheads in der Provinz
Ungewöhnlich dagegen sind der Coming-of-Age-Roman „Jelgava 94“ von Jānis Joņevs und die Kurzgeschichtensammlung „Berlin“ von Andris Kuprišs, die in der postsowjetischen oder in der Jetzt-Zeit angesiedelt sind, für die die geschichtlichen Ereignisse überhaupt keine Rolle spielen. Es sind europäische Romane mit allgemeingültigem Anspruch, in denen sich auch Metalheads in der westfälischen Provinz oder Bewohner:innen eines fiktiven Berlin wiedererkennen können, durch das ein alkoholkranker Mensch im Rausch irrt.
Nicht von ungefähr wurde „Jelgava 94“ mit dem Europäischen Literaturpreis ausgezeichnet, verfilmt und mittlerweile in über zehn Sprachen von übersetzt. Joņevs‘ neuer Roman, dessen Übersetzung gerade vorbereitet wird, ist eine True-Crime-Story und geht einer vermeintlichen, vom Boulevard zur Mordserie stilisierten Folge von Tötungsdelikten nach.
Ähnlich ist auch „Meister der Lügen“ von Baiba Zīle ein Kriminalroman, der die Wirren der 90er Jahre zwischen Kommunismus und Kapitalismus darzustellen versucht. Viele Bücher aus Lettland erschienen bislang in kleineren Verlagen, darunter auch Klak und Ammian aus Berlin oder Paperento aus Chemnitz. Bei diesem Festival wird man sehen, dass das mit ihrer Größe nicht viel zu tun hat.
Adrian Kasnitz, Jahrgang 1974, ilebt als Lyriker und Erzähler in Köln. Seine Bücher erscheinen in der 2000 von ihm mitgegründeten Parasitenpresse, die auch Janis Jonevs verlegt.
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