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Jurjews KLASSIKER: Liebediener und Schmeichlersöhne

Am 27. Januar 1687 fand eine Sitzung der Académie française statt, die der glücklichen Genesung König Ludwigs XIV.

Am 27. Januar 1687 fand eine Sitzung der Académie française statt, die der glücklichen Genesung König Ludwigs XIV. gewidmet war. Charles Perrault, ehemals der höchste Kulturbeamte Frankreichs, unter anderem als Leiter der königlichen Kunstkaufkommission, nach dem Tode seines Gönners Colbert aber aus den meisten Ämtern geschieden und überwiegend mit schöner Literatur beschäftigt, trug aus gegebenem Anlass ein Langgedicht mit dem Titel „Das Jahrhundert Ludwigs des Großen – Le Siècle de Louis le Grand“ vor. Darin wurde die Überlegenheit des Zeitalters Ludwigs XIV. gegenüber dem des Augustus (und selbstverständlich des Sonnenkönigs sogar gegenüber Caesars Neffen) postuliert.

Das hätte die Versammlung nicht weiter gestört, aber Perrault übertrat eine wichtige Grenze, indem er behauptete, dass die Franzosen nicht nur in der Religion, Politik und Moral den alten Griechen und Römern weit voraus seien, sondern auch in der Architektur, Malerei, Bildhauerei, Musik und – dies war die Hauptsache und der Punkt des Anstoßes – in der Literatur.

Die Grundsätze der europäischen Bildung, und auch die der einflussreichsten Literaturrichtung dieser Zeit, des Klassizismus, deren berühmteste Vertreter bei der Akademiesitzung anwesend waren, beruhten auf dem Glauben, dass die Antike die höchste Blütezeit des menschlichen Geistes sei und unübertreffliche Musterwerke geschaffen habe, an die ein moderner Autor sich bestenfalls annähern könne. Und je näher er ihnen gekommen ist, desto besser sei er. Aber nicht besser als Homer oder Horaz.

Also war die Empörung groß, vor allem bei Nicolas Boileau, der sich auch Despréaux oder Boileau-Despréaux nannte, um sich von seinem älteren, früh gestorbenen Bruder Gilles zu unterscheiden. Der 1636 in Paris geborene bürgerliche Juristensohn und nicht praktizierende Jurist konnte und wollte wahrscheinlich nichts sagen gegen die angebliche Überlegenheit von Ludwigs Zeitalter gegenüber allen anderen Epochen der menschlichen Geschichte.

Das Gefühl, in einem „goldenem Zeitalter“ zu leben, war in der ersten Hälfte der langen Regierungszeit Ludwigs weit verbreitet. In der zweiten Hälfte, die durch eine Verschlechterung der Wirtschaftslage und vor allem durch militärische Niederlagen gekennzeichnet war, mochte man umso weniger seine Zweifel an dieser Überlegenheit äußern. Und warum sollte allein die Kunst eine Ausnahme sein? Boileau hatte indes einen persönlichen Grund, empört zu sein: Wegen seiner giftig-witzigen Satiren berühmt und gefürchtet, hielt er sich nicht nur für den „Oberen Richter des Geschmacks“ der Pariser Literatursalons – er war es auch.

Und mehr als das: In seiner drei Jahre vor dem schicksalhaften 27. Januar 1687 vollendeten Poetik „L’Art poétique“ hat er das gesamte Regelwerk des Klassizismus aufgestellt, für Jahrhunderte, wie es schien. Was geht, was nicht geht, was schön, was unschön ist. In guten alexandrinischen Versen!

Jetzt, drei mickrige Jahre später, erklärt dieser Banause, der nicht einmal richtig Griechisch kann, Ovid, Horaz und sogar den großem Homer für zu unzivilisiert für unsere glückliche Zeit. Und den preziösen Roman, den Boileau als eine absolut unseriöse Gattung abschmetterte, zum moralisch und literarisch perfekten Höhepunkt der Literaturgeschichte.

An jenem 27. Januar 1687 begann der Streit über das Alte und das Neue, die „Querelle des Anciens et des Modernes“, die mehr als dreißig Jahre lang das kulturelle Leben Frankreichs beherrschte. Wichtiger noch: An diesem Tag wurde auch die Idee des künstlerischen, ja menschlichen Fortschritts geboren – aus dem Geiste der höfischen Schmeichelei, die im „Zeitalter Ludwigs des Großen“ Gesetz war. Vor 300 Jahren, am 13. März 1711, ist Nicolas Boileau in Paris gestorben: verbittert und seiner schönen klassizistischen Ewigkeit für immer beraubt. Der Streit ist seit 300 Jahren entschieden: Der Fortschritt hat gewonnen. Wir, die Menschheit, werden mit jeder Generation besser, klüger und talentierter. Davon kann sich jeder leicht überzeugen – etwa durch einen kurzen Blick in die Wälzer auf der Bestsellerliste.

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