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"Der Flüchtling" von Felix Nussbaum

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Literatur und Moralität: Die Wörter der Tragödie

Nach dem Streit um Takis Würgers „Stella“: Was darf Fiktion? Was muss sie? Über die Moralität von Literatur in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust und anderen Zivilisationsbrüchen.

Von Gregor Dotzauer

Um gleich zum ersten und letzten Mal jenen Journalisten zu zitieren, der sich mit dem Roman „Stella“ in die Welt der Literatur verirrte: „Literatur muss erst mal gar nichts.“ So antwortete Takis Würger im ZDF-Magazin „Aspekte“ auf die Frage, ob ein Schriftsteller des Jahres 2019 in der Darstellung des Holocaust denn keine besonderen Pflichten habe. Leichtfertiger kann man mit der ästhetischen Moralität von Fiktionen nicht umgehen – es sei denn, man reißt die Grenzen zwischen Kunst und Kolportage von vornherein nieder. Literatur, die nicht nur Unterhaltungsbedürfnisse bedienen will, muss nämlich einiges. Sie führt ein permanentes Gespräch mit den Formen und Tönen der Vergangenheit, auch im radikalen Bruch.

Die Mittel, mit denen Autoren um das Verstehen einer Wirklichkeit ringen, die alles darauf anlegt, sich dem Verstehen zu entziehen, indem sie Verstand und Seele zersetzt, sind dabei durchaus verschieden. Wenn es aber am extremsten Punkt der politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, den Lagern, eine Art Übereinkunft gibt, dann ist es der Verzicht auf jede Sentimentalisierung – und ein Misstrauen in die Techniken der illusionistischen Einfühlung.

Imre Kertész, dem es im „Roman eines Schicksallosen“ gelang, seine Deportation nach Auschwitz in stoischer Nüchternheit als jugendliches Ferienabenteuer zu schildern, schuf für sich die Metapher des „atonalen Erzählens“. Warlam Schalamow, der in seiner Prosa die langjährige Deportation in die sibirische Kolyma-Region verarbeitete, verabschiedete im Namen eines dokumentarischen Schreibens sogar den Roman.

Das Scheitern des Romans

Boris Pasternaks „Doktor Schiwago“, erklärte er, sei das letzte wort- und farbenreiche Zeugnis für das Scheitern der Gattung. In 46 durchnummerierten Thesen über die Lehren aus dem Häftlingsdasein beschloss er, „dass der Schriftsteller ein Ausländer sein muss, in den Fragen, über die er schreibt – wenn er das Material gut kennt, wird er so schreiben, dass ihn niemand versteht.“ Beides, die Atonalität und der fremdsprachenhafte Zugriff, mag im Angesicht der geschliffenen und an der Oberfläche leicht zugänglichen Texte von Kertész und Schalamow übertrieben wirken. Aber es beschreibt die hartnäckige Widerständigkeit ihrer Stoffe – und das tiefe Misstrauen in deren folgenlose Konsumierbarkeit. Vielleicht, bemerkte Joseph Brodsky im Vorwort zum Meisterwerk eines ganz anderen Chronisten der nationalsozialistischen und stalinistischen Verheerungen, „besteht das einzige Verdienst einer realen Tragödie, die Opfer und Überlebende gleichermaßen sprachlos zurücklässt, darin, dass sie die Sprache ihrer Kommentatoren fördern.“

Danilo Kiš, Sohn eines ungarischen Juden und einer Montenegrinerin, der in der Woiwodina aufwuchs, biete mit seinem „Grabmal für Boris Dawidowitsch“ ein „ästhetisches Verständnis, wo die Ethik fehlschlägt“. In sieben Kapiteln „ein und derselben Geschichte“ folgt Kiš darin den durchweg tödlichen Schicksalen von Menschen auf beiden Seiten des sowjetischen Terrors.

Dieses „lange dramatische Poem“, wie Brodsky es nennt, geht in seiner sichtbaren Verquickung von Fiktion und Fakten sehr viel verschwenderischer mit Sprache um, als es sich Kertész und Schalamow je gestatten würden. Aber auch Kiš ringt über den Montageabgründen seiner Prosa um die Darstellbarkeit einer Menschenvernichtungsmaschinerie, in der die Profile von Tätern und Opfern verschwimmen, ohne dass damit eine Relativierung des moralischen Kollapses als Ganzes verbunden wäre.

Unbarmherziger hat diesen Kollaps nur noch sein Landsmann Aleksandar Tišma, auch er ein Sohn der Woiwodina, beleuchtet. In seinen Romanen erzählt er vom tosenden Zerfall des Vielvölkergemischs in Novi Sad, in der 1942 deutsche und ungarische Truppen Tausende von Juden und Serben in den Tod trieben. Über weite Strecken wie sein Hauptwerk „Der Gebrauch des Menschen“ in einem lakonischen Präsens geschrieben, leben sie von geradezu hyperrealistisch erfassten Körpern, Wohnungen und Straßen. Eine Aneinanderreihung von Alltäglichkeiten, aus denen sich ein traumatischer Zusammenhang ergibt.

Primo Levi konnte nicht aufhören, das Irrationale zu rationalisieren

Die Bücher über seine Heimatstadt beschließt „Kapo“, die Geschichte eines schuldzerfressenen kroatischen Juden, der nur als KZ-Aufpasser überleben konnte. Als Gegenpol zur barmherzigen Zeugenliteratur von Primo Levi, der nicht aufhören könnte, das Irrationale zu rationalisieren und daran zerbrach, gehört Tišmas Werk zu den maßgeblichen Versuchen, dem Verhängnis ein Gesicht zu geben.

Man kann daran, wie zuletzt der auf Französisch schreibende amerikanische Jude Jonathan Littell in „Die Wohlgesinnten“, auch grandios scheitern. Der Roman versucht, den Wahnsinn des Nationalsozialismus aus der Täterperspektive eines dämonischen SS-Obersturmbannführers zu imaginieren. Doch selbst wenn man Littells mit dokumentarischem Material gekreuzte Perversionsetüden auf den Spuren des Marquis de Sade aus guten Gründen ablehnt, ist darin ein literarischer Ehrgeiz zu erkennen, dem Takis Würger nicht einmal nahekommt. Die Freiheit, die er für seine dokumentarisch inspirierte Geschichte um die jüdische Judenverräterin Stella Goldschlag beansprucht, gilt nur dem lustvoll erfundenen Detail. Ansonsten bleibt der Roman in der realistischen Konvention gefangen.

Politisch vordergründig untadelig, sucht er Entlastung von der jüngsten Literaturgeschichte und gibt damit zugleich ein Stück begriffener Wirklichkeit preis. Wer auf diesem Gebiet ohne „Einflussangst“ schreibt, deren Anerkennung der amerikanische Literaturwissenschaftler Harold Bloom zur entscheidenden Bedingung für literarisches Gelingen macht, kann gar kein Bewusstsein für das Heikle seines Gegenstands entwickeln. Gutes Schreiben kommt gerade hier von sorgfältigem Lesen, weil auch die Literatur einen Wissensstand hat, hinter den man nur zurückfallen kann.

Eine ähnlich pompöse Arglosigkeit ist auch das Problem der Filme von Florian Henckel von Donnersmarck. Die fragwürdige Moralität ihrer Fiktionen liegt nicht in den persönlichen Bauchschmerzen, die der reale Christoph Hein beim Ansehen von „Das Leben der Anderen“ und der reale Gerhard Richter beim Ansehen von „Werk ohne Autor“ bekommen haben, sondern in ihrer ganz allgemeinen Zurichtung von Geschichte.

Man kann den Blick bei alledem getrost über Europa hinaus richten. Der Chinese Yan Lianke, der wohl bedeutendste lebende Erzähler seines Landes, hat mit „Die vier Bücher“ einen der bewegendsten Romane über moralische Korrumpierung unter totalitärem Druck geschrieben, den man in diesen Jahren lesen kann. In einer bizarren Mischung aus Schrecken und Komik schildert er das Leben von Intellektuellen in einem Lager am Gelben Fluss während des „Großen Sprungs nach vorn“.

Welche bildgebenden Verfahren sind erlaubt

Was unter Mao Zedong zwischen 1958 und 1962 in der Gesamtheit seiner wirtschaftlichen Kampagnen und der agrarischen Zwangskollektivierung in einen Modernisierungsschub münden sollte, führte zur größten Hungersnot in der Geschichte der Menschheit. Je nach Berechnung fielen ihr 15 bis 45 Millionen Chinesen zum Opfer. Indes handelt es sich nicht um einen historischen Roman. Was Yan Lianke hier an Verrat, Strafe, Unterwerfung und letzten Funken einer verlöschenden Menschlichkeit aus vier Perspektiven (inklusive einer Variation auf Albert Camus’ „Mythos von Sisyphos“) als postmoderne Allegorie gestaltet, gehört in jenen „mythorealistischen Kosmos“, den er nach eigener Auskunft mit vielen seiner Bücher betritt.

Welche bildgebenden Verfahren sind dabei erlaubt? Und überschreitet der Erzähler eine Grenze, wenn es dabei auf einem Höhepunkt der Erniedrigungen Sex mit einer Toten gibt, oder sind es seine Figuren? Ein irritierendes Vexierspiel zur Frage von Bilderverboten in der Fiktion hat der südafrikanische Literaturnobelpreisträger J. M. Coetzee mit der Erzählung „Das Problem des Bösen“ in dem Zyklus „Elizabeth Costello“ geschaffen. Seine fiktive Titelheldin, eine an ihrer eigenen Moralgewissheit zutiefst zweifelnde Schriftstellerin, geht darin mit einem real existierenden Schriftsteller namens Paul West und dessen Roman „The Very Rich Hours of Count von Stauffenberg“ ins Gericht.

Wests Buch folgt den Verschwörern des Juli 1944 bis in den Hinrichtungskeller und malt das Elend ihrer letzten Minuten aus, als hätte es dafür Zeugen gegeben. Mehrfach rechtfertigt Costello ihr Unbehagen, ohne dass sie es wirklich begründen könnte, auf eine Obszönität, die, wie das Wort etymologisch zu verstehen gibt, jenseits der Bühne stattfinden sollte. Und zugleich formuliert sie das Argument möglicher West-Verteidiger: „Wie können wir die Untaten der Nazis kennen, wenn es unseren Künstlern verboten ist, sie für uns zum Leben zu erwecken?“

Es ist dies alles komplizierter, als es sich skizzieren lässt. Costellos Hinfälligkeit kommt ins Spiel, dazu der Gedanke an einen Satan, der in den Tierschlachthöfen den Bolzenschussgeräten bei der Arbeit zusieht. Und nichts ist dazu angetan, die Szenerie in Argumente aufzulösen, an deren Ende ein klares Ergebnis steht. In der literarischen Konstellation selbst liegt die Voraussetzung einer Antwort.

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