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Taylor

© Beekman/Hollandse Hoogte/laif

Charles Taylor: Der Geist und die Geister

Wie hältst du’s mit der Religion: Charles Taylor erzählt die Geschichte der Säkularisierung.

„Warum war es in unserer abendländischen Gesellschaft beispielsweise im Jahre 1500 praktisch unmöglich, nicht an Gott zu glauben, während es im Jahre 2000 vielen von uns nicht nur leichtfällt, sondern geradezu unumgänglich vorkommt?“ Mit dieser Ausgangsfrage beginnt der kanadische Philosoph Charles Taylor sein monumentales Werk „Ein säkulares Zeitalter“, das auf 1300 Seiten die Geschichte des Säkularisierungsprozesses der westlichen Welt erzählen will. Die Standardantwort auf diese Frage lautet etwa so: Der Westen hat sich in einem jahrhundertelangen Prozess der Aufklärung, Rationalisierung, Verwissenschaftlichung und Demokratisierung von mythischen, irrationalen, unwissenschaftlichen und vormodernen Weltbildern emanzipiert und betrachtet die Welt heute endlich so, wie sie wirklich ist. Es gibt keine Götter, Geister und höheren Mächte, sondern wir Menschen leben in einem Universum, das ausschließlich von Naturgesetzen bestimmt ist, die wir nach und nach enträtseln können. Wir leben in Gesellschaften und politischen Ordnungen, deren Normen wir ohne Berufung auf göttliche Instanzen selbst festlegen.

Taylor will zeigen, dass diese von ihm als „Subtraktionstheorie“ bezeichnete Auffassung falsch ist. Er bestreitet zwar nicht, dass in den letzten 500 Jahren ein Wandel stattgefunden hat, aber er deutet ihn anders als die üblichen Säkularisierungstheorien. Und er gibt freimütig zu, dass er seine Version der abendländischen Säkularisierungsgeschichte nicht aus einer neutralen Position heraus erzählen will, sondern aus der eines gläubigen (Links-)Katholiken.

Der 1931 im kanadischen Montréal als Sohn eines englischsprachigen Vaters und einer französischsprachigen Mutter geborene Gelehrte und langjährige Philosophieprofessor an der dortigen McGill University gilt spätestens seit seinem 1989 publizierten Buch „Quellen des Selbst – Die Entstehung der neuzeitlichen Identität“ als einer der wichtigsten Denker der Gegenwart. In diesem Werk versucht Taylor zu zeigen, dass der moderne Individualismus sich aus unterschiedlichen Quellen und Motiven speist, die sich teilweise heftig widersprechen. Denn einerseits geht es dem neuzeitlichen Subjekt um eine kühle, distanzierte, desengagierte Betrachtung der Welt, andererseits aber um eine expressive, leidenschaftliche Verwirklichung des eigenen Potenzials.

Aus diesen Widersprüchen speist sich das „Unbehagen an der Moderne“ (so der Titel eines Essays von Taylor). Wegen dieser Kritik des neuzeitlichen Individualismus hat man Taylor das Etikett eines „Kommunitaristen“ verpasst. Der kanadische Philosoph hat seine Auffassung selbst einmal so zusammengefasst: „Die Idee, dass das Individuum ganz neu den Sinn seines Lebens erfindet, ohne den Anderen, ohne die Gesellschaft und ohne Religion – das ist meiner Ansicht nach eine Illusion.“

Das heißt nun freilich nicht, dass sich Taylor in jene Zeiten zurücksehnt, „als sich alle einer Mitte neigten / und auch die Denker nur den Gott gedacht“ (so Gottfried Benn in seinem Gedicht „Verlorenes Ich“). Er begreift die heutige Situation vielmehr als eine, in der man sich bewusst für den Glauben entscheiden kann – oder auch nicht. Aber genau damit widerspricht er den üblichen Säkularisierungstheorien, die unterstellen, die atheistische Position sei für die Modernen die einzig vernünftige Option, und religiöse Menschen seien Hinterwäldler, die eben noch nicht richtig in der Moderne angekommen seien.

Der Standarderzählung des westlichen Säkularisierungsprozesses, die diesen als einen geradlinigen Weg vom dunklen Mittelalter zum hellen Licht der Aufklärung begreift, hält Taylor eine reichlich verschlungene Geschichte entgegen. Und so verschlungen, mit vielen Abschweifungen und Nebenfäden, ist auch sein Buch. Seine These lautet: Die Säkularisierung ist selbst ein Produkt der Religion und verdankt sich einer doppelten Weltbildrevolution. Zuerst haben in der von Karl Jaspers so genannten „Achsenzeit“ um die Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends der jüdische Monotheismus und die platonische Philosophie die alten archaischen Weltbilder entzaubert, in denen der ganze Kosmos von Geistern und Dämonen bevölkert war. Und dann hat innerhalb des lateinischen Christentums eine von Taylor als „REFORM“ bezeichnete Bewegung versucht, jene Elemente aus der Volksreligion zu entfernen, die aus der Sicht der Theologen noch aus dem alten Heidentum stammten: Karneval und Reliquienkult, heilige Zeiten und heilige Orte. Diese „REFORM“ setzt für Taylor nicht erst mit Luthers und Calvins Reformation ein, sondern bereits im Hochmittelalter. Taylor folgt hier Max Weber und Michel Foucault: Die „REFORM“ ersetzt die außerweltliche Askese der Mönche und Nonnen durch die innerweltliche Askese der gewöhnlichen Gläubigen (Weber) und die zeitliche Diskontinuität von Alltag und ekstatischer Festlichkeit durch ein in kontinuierlicher Selbstdisziplin geführtes Leben (Foucault).

Damit ist der Boden für einen Lebensstil bereitet, der den Einzelnen nicht mehr in eine sakrale Ordnung der Gesellschaft und des Kosmos einbettet, sondern ihn zwingt, als atomisiertes, „abgepuffertes“ Individuum sein Leben rational selbst zu steuern. In den Gesellschaftstheorien seit Thomas Hobbes und John Locke haben Ekstase und Selbsttranszendenz, Hingabe und Opfer keinen Platz mehr, sie beruhen vielmehr auf einer Logik der Selbsterhaltung und des wechselseitigen Vorteils. Diese „anthropozentrische Wende“ wird zunächst immer noch theologisch legitimiert, allerdings jetzt in der Version des „providenziellen Deismus“: Die göttliche Vorsehung, so heißt es bei den Philosophen des 18. Jahrhunderts, habe genau diesen selbstdisziplinierten, nüchternen Lebensstil gewollt. Im Laufe des 19. Jahrhunderts kommen dann immer breitere soziale Schichten ohne die göttliche Vorsehung aus: der jede Form von Transzendenz ausgrenzende Humanismus setzt sich durch.

Allerdings setzt etwa zur selben Zeit innerhalb der säkularen Mentalität eine Gegenbewegung gegen dieses Modell der rationalen Lebensführung ein. Diese „immanente Gegenaufklärung“, wie Taylor sie nennt, reicht von der Romantik über Friedrich Nietzsche und Georges Bataille bis zur Jugendrevolte der 1960er Jahre. Sie nimmt eine dritte Position jenseits von Religion und säkularem Humanismus ein und lehnt sowohl das Christentum als auch die Aufklärung ab, denen sie beiden vorwirft, das Irrationale und Ekstatische, das Aristokratische und Heroische zu unterdrücken. Taylor lässt eine gewisse Sympathie mit dieser Humanismuskritik erkennen, denn auch er ist der Meinung, dass die jahrhundertelangen „REFORM“-Bewegungen eine Gesellschaft hervorgebracht haben, in der die „Ordnungswut“ und der „Regelfetischismus“ einer Political Correctness herrschen. Aber er verteidigt das Christentum gegen seine jungkonservativen Kritiker wie gegen seine neokonservativen Freunde, indem er in Erinnerung ruft, dass es ihm gerade nicht um die penetrante Moralisierung aller Lebensbereiche geht, sondern um die „Suspension des Ethischen“ (Kierkegaard), um die Befreiung aus der „Knechtschaft des Gesetzes“ (Paulus).

Charles Taylor: Ein säkulares Zeitalter. Aus dem Englischen von Joachim Schulte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2009. 1300 Seiten, 68 Euro.

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