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Kleiner, großer Luther.

© dpa

Martin Luther: Übersetzer, Übervater, überfordert

Martin Luther wollte die Kirche reformieren und revolutionierte die Welt. Zum Jubiläumsjahr erscheint eine Fülle neuer Bücher. Eine Rezension

Donald Trump hat seine Wahl einem großen Zorn zu verdanken. Viele Amerikaner sind wütend, weil sie sich abgehängt und bevormundet fühlen von den Autoritäten und Hierarchien, vom Establishment. Auch Martin Luther war ein Wutbürger, getrieben von einem Furor gegen die kirchlichen Autoritäten und dazu von einer großen Angst. Darin sind sich die meisten Biografen einig.

Vor 499 Jahren veröffentlichte der bis dahin unbekannte Mönch in Wittenberg seine Thesen gegen den Ablasshandel der katholischen Kirche. Sein Zorn und seine Angst speisten sich freilich aus anderen Quellen als die Wut heutiger Menschen. Luther ängstigte sich nicht vor dem sozialen Abstieg, sondern vor der Fahrt in die Hölle. Zorn und Angst entfachten bei ihm eine ungeheure Produktivität, sie ließen ihn todesmutig und standhaft sein. Doch je älter er wurde, umso unerbittlicher hasste und hetzte er gegen alle, die er als Feinde ausgemacht hatte.

„Der Zorn, aus Wut und Glaube geboren, ist eine menschliche Konstante“, schreibt Georg Diez in seinem Buch „Martin Luther, mein Vater und ich“. Luther habe diesen Zorn gegen die Welt in sich getragen: „Jesus selbst ist das Vermächtnis dieses Zorns. Und auch die Bibel ist ein Buch des Zorns – und zugleich der Versuch, diesen Zorn zu bändigen.“ Diez ist fasziniert von Luthers Zorn, von der gewaltigen Kraft, die alles wegsprengte und den Weg bahnte für Neues. Und weil Diez aus einem evangelischen Pfarrhaus stammt, fragt er sich: „Bin auch ich ein Kind des Zorns?“

Der „Spiegel“-Journalist liest sich durch die Bibel und Luthers Schriften, um seinen Austritt aus der Kirche zu rechtfertigen. „Es ist ein Menschenbild der Kränkung, des Verdachts, der Niederlage, das Luther ausbreitet, keines der Hoffnung, der Kraft, des Sieges“, schreibt er und wirft dem Reformator vor, dass er an Gott festhielt und dem Menschen den freien Willen absprach, obwohl er doch so viel von der Freiheit des Menschen ahnte. Damit habe Luther ein sehr deutsches Paradox verkörpert: den „gesetzesgläubigen Revolutionär“. Diez bringt Einsichten gut auf den Punkt, erzählt aber mehr über sich als über den Reformator.

Lyndal Roper legt Luther auf die Couch

Für die Oxford-Historikerin und Pfarrerstochter Lyndal Roper ist der autoritärer Vater schuld an Luthers Rebellion. Hans Luder hatte es in der Bergbaustadt Mansfeld zum Hüttenmeister gebracht und war ein „jähzorniger Patriarch“, schreibt sie in „Der Mensch Martin Luther“. Für seinen Sohn hatte er eine Juristenkarriere vorgesehen, die den prekären Wohlstand der Familie hätte absichern sollen. Als sich Martin fürs Kloster entschied, reagierte der Vater sehr ungehalten. Roper analysiert Luthers Revolte gegen Papst und Kaiser als einen Prozess der Selbstermächtigung. Material fand sie in seinen vielen Briefen, in denen er Freunden seine emotionalen Wandlungen bis hin zu Traumerlebnissen bisweilen sehr ausführlich schilderte.

Die Heftigkeit in der Auseinandersetzung mit seinem Vater bereitete Luther darauf vor, den Papst mit solch gewaltiger Energie anzugreifen. Der Kampf mit dem Vater versetzte ihn auch in die Lage, so überzeugend von der Freiheit eines Christen zu schreiben – immerhin war seine eigene Unabhängigkeit bitter erkämpft und hatte große emotionale Opfer gefordert. Er brachte es fertig, die Spannung auszuhalten zwischen der Überzeugung von der Freiheit eines Christen (...) und dem Glauben, dass Menschen ganz und gar nicht frei sind in ihren Handlungen.“

Der psychoanalytische Zugang zu Luther ist nicht neu. Bereits in den sechziger Jahren hatte der amerikanische Psychoanalytiker Erik Erikson den Reformator auf die Couch gelegt. Aber Roper erkennt Dinge, die andere so nicht erkennen. Etwa, dass Luther keineswegs innere Nähe zu Gott oder zu Jesus Christus empfunden habe. Obwohl er die Christen aufforderte, eine persönliche, nicht mehr durch Priester vermittelte Beziehung zu Gott aufzubauen, habe er stets die unüberbrückbare Distanz zwischen dem väterlichen Gott und den Menschen betont, die ihm hilflos gegenüberstünden. Ropers Blick hat aber auch klare Grenzen. Etwa wenn sie dem Bauernkrieg nur wenige Seiten widmet, aber Luthers Eheleben und der Entwicklung seiner sexuellen Identität breiten Raum einräumt.

Ein Mediziner untersucht Luthers Krankheiten

Der ehemalige Klinikdirektor an der Berliner Charité, Hans-Joachim Neumann, wendet sich in seiner 1996 verfassten und nun neu aufgelegten Krankheitsgeschichte Martin Luthers vehement gegen eine psychologische Vereinnahmung. Luther habe unter Herzbeschwerden, furchtbaren Magen- und Darmproblemen, Beklemmungsgefühlen und depressiven Phasen gelitten. Schmerzen und Erschöpfung erklärten manch derben Umgangston oder emotionalen Ausfall vor allem des alternden Luther, seien aber nicht Antrieb für seine Reformen gewesen. Neumann diagnostiziert Luthers Leiden als Roemheld-Syndrom und führt es auf seine ungesunde Lebensweise im Kloster mit extremen Fastenzeiten zurück. Auf der Wartburg habe man ihm dann später viel zu viel Essen verabreicht, was seinen Magen vollständig ruiniert habe. Aus dem schlanken Mönch wurde ein adipöser Patron.

Seit 2012 gilt die großartige Luther-Biografie des emeritierten Berliner Historikers Heinz Schilling als Standardwerk. Zum 500. Reformationsjubiläum hat der Beck-Verlag eine aktualisierte Sonderausgabe herausgebracht. Zwei neue Werke sind hinzugekommen, die jeder lesen sollte, der sich für Luther interessiert: Willi Winklers über 600 Seiten starke Biografie „Ein deutscher Rebell“ und Thomas Kaufmanns Reformationsgeschichte „Erlöste und Verdammte“.

Für Willi Winkler ist Luther der erste deutsche Rebell

Der Journalist Willi Winkler leuchtet Luthers widersprüchliche Persönlichkeit aus und entwickelt zugleich ein Panorama der politischen, wirtschaftlichen und kirchlichen Verflechtungen zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Er beschreibt anschaulich, wie sich der Frühkapitalismus der Handels- und Geldhäuser Fugger und Medici bestens mit einer „Frömmigkeitsindustrie“ vertrug, in der alles käuflich war: kirchliche und weltliche Ämter und auch das Seelenheil.

Eine weitverbreitete Endzeitstimmung um 1500 trug dazu bei, dass die Heilsökonomie florierte: „So war die Welt, zutiefst fromm, voller Angst und immer auf den eigenen Vorteil bedacht.“ Luther verweigerte sich dieser Gegenwart, ging zurück zu den biblischen Quellen und entwickelte eine nach innen gerichtete Frömmigkeit, die nicht käuflich war, sondern allein vom Glauben und allein von der Gnade Gottes abhängen sollte.

Luther habe aber vor allem deshalb so schnell so großen Erfolg gehabt, weil er bei den deutschen Bischöfen und Fürsten geschickt antirömische Ressentiments weckte, argumentiert Winkler: „Deutschland gibt es im Jahr 1520 so wenig wie im Frankreich Karls des Großen oder im Dreißigjährigen Krieg; wohl aber wächst unter den Humanisten, den Intellektuellen, das Bedürfnis, diese unübersichtlichen Staaten, die nur das Adjektiv ,deutsch‘ verbindet, zu einer Einheit zusammenzudenken. Der Papst war ein Welscher, wollte aber in diese nördliche Provinz hineinregieren, und auch der deutsche Kaiser war ein Ausländer. Dieser Luther wagte es endlich, gegen die Fremden mit ihren Vorstellungen von einem botmäßigen Deutschland aufzustehen, vor allem gegen den Erfindungsreichtum, mit dem sie aus Deutschland immer noch mehr Geld herausholten und über die Alpen leiteten.“ Mit der Übersetzung der Bibel und seiner Schriften ins Deutsche lieferte Luther dazu auch das einigende Band der deutschen Sprache.

Um seine Revolution zu verstetigen und zu dauerhaftem Erfolg zu führen, musste Luther allerdings Verrat an seiner eigenen Sache begehen, meint Winkler. Als die Bauern seine Worte von der Freiheit des Christenmenschen wörtlich nahmen und gegen die Leibeigenschaft rebellierten, „kannte Luther Luther nicht mehr“. Er verlangte von den Fürsten, sie sollten die Bauern „abstechen, erschlagen, erdrosseln, alle Mittel sind recht, Hauptsache, der Gegner wird ausgerottet“.

Der Erfinder des Gewissens hatte dabei nicht mal ein schlechtes Gewissen. „Luther rettet die Reformation, indem er mithilft, die Revolution abzustechen. In seiner Not, auch in seinem Entsetzen über das, was er mit seiner Lehre angerichtet hatte, die doch um alles in der Welt nicht in dieser Form umstürzlerisch sein sollte, rettete sich Luther in den Schutz der Obrigkeit, nicht ohne ihr zugleich die Rechtfertigung für ihre gottgewollte Herrschaft zu liefern.“

Schon 1520 diskutierte ganz Europa Luthers Thesen

Wie es weiterging, lässt sich sehr gut in Thomas Kaufmanns „Erlöste und Verdammte“ nachlesen. Der Göttinger Kirchenhistoriker ist der wohl beste Kenner der Reformationsgeschichte und legt nach „Luthers Juden“ über Luthers Antisemitismus (2014) eine Analyse der europäischen Wirkungsgeschichte der reformatorischen Lehren vor.

Wittenberg im Jahr 1517 lag „an der Grenze der Zivilisation“. Doch schon zwei Jahre nachdem Martin Luther dort seine Thesen gegen den Ablasshandel veröffentlicht hatte, diskutierten Professoren an der Pariser Sorbonne darüber. 1520 beschäftigten sich Theologen in Cambridge, in den Niederlanden und in Prag damit. Aus ganz Europa kamen junge Männer an die Universität zu Wittenberg, um die neue Lehre an ihren Quellen zu studieren.

Die Schriften des Rebells, der den höchsten Autoritäten getrotzt hatte, verbreiteten sich auf dem ganzen Kontinent so schnell, weil Ordensbrüder, Kaufleute, Universitätslehrer und Studenten sie in Umlauf brachten, erläutert Kaufmann. Auch die Humanisten wollten, dass sich die Kritik an der Kirche verbreitete, und in Nord- und Osteuropa wirkten zudem deutsche Bevölkerungsgruppen als Multiplikatoren.

Kaufmann zeichnet nach, wie es dann auch schnell zu den ersten innerreformatorischen Zerwürfnissen kam, wie sich in Zürich mit Ulrich Zwingli und Johannes Calvin ein weiteres reformatorisches Zentrum etablierte und wie die katholische Kirche mit der Gegenreformation einen immer rigideren Kurs einschlug, statt sich für Reformen zu öffnen.

Mit dem Schmalkaldischen Krieg kam es zum ersten militärischen Konflikt zwischen den protestantisch geprägten Fürsten und den Truppen Kaiser Karls V. „Der Augsburger Religionsfriede von 1555 moderierte danach zwar die konfessionelle Pattsituation im Reich und definierte in den paritätischen Reichsstädten die jeweiligen Ansprüche der einzelnen Konfessionsparteien genau“, schreibt Kaufmann. Doch dies beförderte eher eine „Atmosphäre der peinlich genauen Beobachtungen, der übertriebenen Achtsamkeit, um ja nicht zu kurz zu kommen, als dass es Verständnis eröffnete“. Bis echte religiöse Toleranz wuchs, brauchte es noch zwei weitere blutige Jahrhunderte.

Der Glaubenskrieg prägt die politische Kultur bis heute, schreibt Bendikowski

Tillmann Bendikowski zeichnet in „Der deutsche Glaubenskrieg“ nach, wie tief die gegenseitigen Ressentiments zwischen Protestanten und Katholiken die politische Kultur in Deutschland über Jahrhunderte prägten. Weil es beiden Seiten immer grundsätzlich um alles ging, um die Wahrheit, habe sich in Deutschland ein dualistisches, manichäisches Denken festgesetzt – das im 20. Jahrhundert letztlich auch den Aufstieg der Nationalsozialisten befördert habe.

Bendikowskis These ist bedenkenswert. Aber wäre es nicht auch möglich, dass die Erfahrungen der Konfessionskriege eine tiefe Sehnsucht nach Harmonie und Einheit im kulturellen Gedächtnis der Deutschen hinterlassen haben und dass diese Sehnsucht nach Harmonie und weniger das Lagerdenken anfällig machte für Nationalismus und Diktatur?

Freunden des Buchdrucks und Buchhandels schließlich sei Andrew Pettegrees Studie „Die Marke Luther“ empfohlen. Sie schildert, wie der Reformator und sein ungeheuerlicher Ausstoß an Texten das aufstrebende Buchgewerbe enorm beförderten. Umgekehrt wäre Luthers Erfolg nicht ohne seine Drucker denkbar gewesen.

Noch lohnender ist, Luther selbst zu lesen und zu entdecken, wie viele seiner Wortschöpfungen uns täglich begleiten. Haben Sie heute schon „die Zähne zusammengebissen“, ein „Machtwort“ gesprochen oder sind „im Dunkeln getappt“?

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