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Der Mantel der Geschichte. Michail Gorbatschow als Generalsekretär der KPdSU am 26 März 1989 im Gespräch mit Journalisten in Moskau.

© Vitaly Armand/AFP

Geschichte Europas: Wie der Kontinent wieder zu sich fand

Ian Kershaw beschreibt die europäische Geschichte seit 1950 als eine von Fortschritt und Gelingen. Eine Rezension.

Die bald sieben Jahrzehnte von 1950 bis zur Gegenwart, die Ian Kershaw in seiner Geschichte Europas beschreibt, sind ein besonderer Zeitraum. Der Ausdehnung nach passt er noch locker in die Dauer eines Menschenlebens. Zugleich übersteigt in dieser Zeitspanne die beispiellose Transformation von materieller Kultur und Lebensweise alle bisherigen Erfahrungen. Und eine atemberaubende politische-soziale Geschichte hat Europa in dieser Epoche überdies hinter sich gebracht: in ihrer ersten Hälfte so strikt geteilt, dass sie vierzig Jahre lang nur in zwei getrennten Geschichten existierte, in ihrer zweiten der Schauplatz eines historischen Umbruchs, der diese zwei Stränge wieder zu einem machte. Alles zusammen: eine singuläre Zusammenballung von Geschichte und Zeitgenossenschaft auf, historisch gesehen, engem Raum.

Ian Kershaw, durch seine zweibändige Hitler-Biografie zur Historiker-Berühmtheit geworden, wagt mit seinem neuen Buch den Blick auf das Ganze dieses Zeitraums. Damit wagt er viel, aber es ist gerade diese Perspektive, die die Komplexität offenlegt, die die europäische Geschichte in dieser Zeit ausmacht. Erst recht bei einem Autor, der bekennt, „dem Drama und häufig der Ungewissheit der sich entfaltenden Geschichte“ so nahe wie möglich bleiben zu wollen. Statt als sichere Bahn eines Aufstiegs zeigt sich die Nachkriegsgeschichte dann als ein Geschehen „voller Wendungen und Windungen, Auf und Abs und willkürlicher Wechselfälle, die einander mit großem und immer rasanter werdenden Tempo ablösten“. Ungeachtet aller Fortschritte, die Europa in diesem Prozess seines Wiederaufbaus gemacht hat, bleibt es für Kershaw ein Kontinent, der von „einer Epoche großer Unsicherheiten in eine andere schlingerte“. Das drängt dem Autor jenen keineswegs jahrmarktsvergnüglichen Vergleich mit einer Achterbahnfahrt auf, der dem Buch den Titel gibt.

Die Blockteilung kam, aber sie verschwand auch wieder

Der Autor geht diese Geschichte chronologisch an, aber daraus folgt keine konventionelle Erzählung. Kershaw ähnelt eher einem mutigen Schwimmer, der sich in die Wogen der Ereignisse stürzt und ihrer mit kräftigen Armstößen Herr zu werden versucht. In der Tat hat das Buch oft etwas von einem Kampf mit elementaren Kräften. Immer wieder bedient es sich auch einer Art politisch-historischer Strömungsmetaphorik: Mal steuert die Politik durch einen „ökonomischen Sturm“, mal gehen Regime – hier die osteuropäischen – „in einem mächtigen Strudel der Veränderung unter“. In dem langen Rhythmus, in dem sich Ereignisse und lange Linien weitmaschig verknüpfen, vollzieht sich Geschichte in Schüben und Phasen des Wandels, in Aufbrüchen und Untergängen, und gewinnt das Geschehen für die Generationen, die es erleben, historische Schicksalhaftigkeit.

Kershaw lässt seine Geschichte 1950 beginnen, anders als zum Beispiel Tony Judts seine 2006 erschienene große „Geschichte Europas“, ein Maßstäbe setzendes Parallelunternehmen, das wie die meisten Nachkriegsgeschichten 1945 als Ausgangspunkt wählt. Für Kershaws Datierung spricht, dass zu diesem Zeitpunkt die „neue Geografie“ der Welt mit ihrem DNA-Code von Spannung und Spaltung bereits fertig ausgebildet ist: die Teilung als Hinterlassenschaft des zweiten Weltkriegs und ihre Befestigung, ihr Aufdauerstellen durch das Gleichgewicht des atomaren Schreckens.

Zugleich zieht er von diesem Anfang aus eine Fluchtlinie, die bis zur Gegenwart reicht: den facettenreichen Veränderungsprozess, der die Geschichte dieses reichlichen halben Jahrhunderts bestimmt – „von der Atomkriegsgefahr zu dem vielgesichtigen, alles durchdringenden Unsicherheitsgefühl der Gegenwart“.

Aber es gibt in diesem Prozess auch Veränderungsschübe, in denen die Geschichte konstruktiv, ja schöpferisch wird. Kershaws Exempel dafür ist die Nachkriegentwicklung im westlichen Europa, die er die „Herausbildung Westeuropas“ nennt. Er sieht darin nichts Geringeres als die Erfindung einer neuen, den Kontinent transformierenden politischen Größe, und er beschreibt sie mit so viel Emphase, als habe er das Hölderlin-Wort im Sinn gehabt, dass, wo Gefahr sei, auch das Rettende wachse.

Denn dass sich eine Handvoll von Staaten auf der Basis der liberalen Demokratie zusammenfand, habe es bis dahin nicht gegeben, nicht in der unmittelbaren Nachkriegszeit und schon gar nicht in den Zwischenkriegsjahren. Gewiss war es ein mühsamer Prozess, von Krisen bedroht, auch nicht möglich ohne amerikanisches Drängen. Doch als 1965 das Begräbnis Churchills mit großem Aufwand zelebriert wurde, sahen die versammelten Staatsmänner, so der Autor, „ein Europa, das kaum noch etwas mit demjenigen gemein hatte, das zwanzig Jahre zuvor aus dem Krieg hervorgegangen war“.

Kershaws unterschlägt nicht den Preis für dieses Westeuropa: die Entstehung des Ostblocks, die Halbierung Europas unter sowjetischer Herrschaft. Er wählt dafür den Begriff der „Klammer“, um der diktatorischen Machtausübung ebenso wie den sich immer wieder vollziehenden blockinternen Wandlungs- und Lockerungsprozessen gerecht zu werden: „Eine Klammer kann gelockert oder fester angesetzt werden. Das Objekt, das es hält, bleibt dasselbe“. Übrigens hält er nicht viel von allen den Häresien, Aufständen und Reformversuchen, die seit Stalins Tod zur Geschichte des Ostblocks gehören. Abgesehen vom Prager Frühling habe sich die sowjetische Herrschaft mehr als drei Jahrzehnte lang „unangefochten“ gehalten. Allerdings verlor sie ihren revolutionären Anspruch und mutierte zu konservativem Autoritarismus.

Bereits 1965 hatte sich Europa vollständig verändert

Für Kershaws Bild der Europäischen Geschichte kennzeichnend sind die von ihm markierten Wendepunkte: 1973, 1989, 2001, 2008 – zwei ökonomische Krisen, die friedliche Revolution, Nine-Eleven. Das verdeutlicht die Weite seiner Perspektiven. Mehr und mehr, aber eigentlich von Anfang an definiert er die Globalisierung als ihren großen Beweger, der sie insoweit zu einer Ausformung der Weltgeschichte macht. Mit der Besonderheit, dass ihr Grundmuster die Staatengeschichte bleibt: Unverdrossen lenkt der Autor seinen Erzählfluss durch die europäischen Regionen, registriert das Abtreten der autoritären Regime Südwesteuropas, den Zerfall Jugoslawiens, später auch die Rückkehr der früheren Satelliten der Sowjetunion in die europäische Geschichte.

Von Hegel stammt der Aphorismus, dass die Zeiten des Glücks leere Seiten im Buch der Geschichte seien. Anders Kershaw: Als „gute Zeiten“ betitelt er lapidar das reichliche Jahrzehnt von den späten fünfziger Jahren bis zum Ölpreisschock 1973. Es ist eine Phase neuerer Normalität, in der Deutschland sein Wirtschaftswunder erlebt, aber auch Frankreich und Italien einen Aufschwung registrieren.

In diesem langen, ereignisarmen Jahrzehnt wird Europas Geschichte zur Erfolgsgeschichte, werden auch die tragenden Säulen unserer Welt gesetzt – der Sozialstaat, die Konsumgesellschaft, die Integration. Alles Folgen eines einzigartigen Wirtschaftswachstums; aber Kershaw sieht darin auch eine „Rückeroberung des Bodens“, den Europa in zwei Weltkriegen verloren hatte.

Ihre besondere Farbe erhält die Nachkriegsgeschichte durch Kershaws Interesse an der Kultur, die er mit einer schönen Formulierung „ein Fenster zur Seele der Gesellschaft“ nennt. Er entfaltet ein breites Panorama ihrer Entwicklungen im Schatten des Krieges, bewegt sich bemerkenswert sicher durch den Wandel der Stile und den Wechsel der Moden, begriffen allemal als Spiegelungen wie als Triebkraft des gesellschaftlichen Wandels. Der kalte kulturelle Krieg, der in der unmittelbaren Nachkriegszeit auf den „Schlachtfeldern der historischen Mythen“ stattfand, spielt eine Rolle, aber vor allem der große Bruch mit der Vergangenheit, den er ein gutes Jahrzehnt später im Siegeszug der Populärkultur in den sechziger Jahren erkennt.

Die Sphären, in die er vorstößt, um die Spannweite dieses Umbruchs zu markieren, werden beispielsweise illustriert durch eine Figur wie den Rockmusiker Little Richard, und mit einer originellen, anonymen Beobachtung, welche die Mauer als Sinnbild der Kontraste zwischen einem Technicolor-Westen und einem grauen Osten wahrnimmt. Das alles verrät in seiner Fülle nicht nur einen gut bestückten Zettelkasten, sondern auch eine wirkliche Anteilnahme an der Umwälzung der kulturellen Normen, die sich damals ereignete.

Für einen Autor, der wie Kershaw gut als historischer Bewegungsmelder durchgehen könnte, werden dann die sechziger Jahre zu einem vorzüglichen Terrain. Sie rangieren bei ihm als die große Zeitenwende der Nachkriegszeit, in der der Konflikt der Generationen das politische System herausforderte. Natürlich spielt da ’68 eine Rolle, doch mehr noch als die Proteste in Berlin und Paris das „andere ’68“, die Erschütterung des Ostblocks durch den Prager Frühling. Desgleichen die seither nie mehr ganz gelöschte Unruhe, die Kershaw mit dem Begriff des „Treibsands“ belegt. Als eine andere Folge dieser turbulenten Phase der Bewegung deutet er den Vormarsch der Sozialdemokraten in Westeuropa im Zeichen von reformerischer Modernisierung, die Ära der Willy Brandt, Harold Wilson und Bruno Kreisky, dazu ihre Dominanz in Skandinavien.

Kershaw kommt nahezu ohen Personen aus – mit einer Ausnahme:Michail Gorbatschow

Kershaws Geschichte Europas kommt nahezu ohne Personen aus – was man bedauern kann. Mit einer Ausnahme: Es ist Gorbatschow, der Generalsekretär der sowjetischen Staatspartei. Dieser charismatische Politiker fordert den Strukturhistoriker Kershaw sogar dazu heraus, die klassische Frage nach der Rolle des Einzelnen in der Geschichte aufzuwerfen. Seine Antwort ist eindeutig: ohne Gorbatschows einzigartige Entschlossenheit „wäre die Geschichte anders verlaufen“. Als Maßstab für dieses Urteil gilt Kershaw die grundstürzende Veränderung der Weltgeschichte innerhalb von nur sechs Jahren, zwischen Gorbatschows Machtantritt 1985 und dem Ende der Sowjetunion 1991, und die davon ausgelöste europäische Revolution. Um diesen Zerfall eines Imperiums zu erklären, greift Kershaw auf eine mythische Größe zurück: „die Macht des Volkes“, zum Ereignis geworden in den Protesten, Demonstrationen, Regimestürzen und politischen Neuanfängen in ganz Ostmitteleuropa.

Kershaw hat ein Buch geschrieben, das die Geschichte Europas nicht nur erzählt, sondern sie als Gehäuse des Schicksals seiner Bewohner in ihren Entwicklungssträngen und epochalen Schritten modelliert. Es wird in seinem Fortgang mehr und mehr von einer Geschichte der Vergangenheit zu einer Geschichte der Gegenwart. Wie im Delta eines Flusses mündet sie in die Diskussion der aktuellen Probleme des Kontinents: Flüchtlingskrise, Macron-Revolution, EU-Querelen, Brexit – ironisch-philosophisch gewürzt durch die Einsicht des Historikers, die Zukunft sei heute so unvorhersehbar wie zu der Zeit, „als Hegel zum ersten Mal ein Ende der Geschichte verkündete“.

Für deutsche Leser hält sein großes Opus eine überraschende Entdeckung bereit: Eine der Hauptlinien der Geschichte Europas besteht nach Kershaws Überzeugung in der Transformation des fast ausgelöschten Deutschlands zu einer zentralen Macht. In Deutschlands Umgestaltung sieht der britische Autor einen Schlüsselfaktor der europäischen Nachkriegsgeschichte. Da muss man erst einmal tief Luft holen.

Ian Kershaw: Achterbahn. Europa 1950 bis heute. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2018. 832 S., Abb., 38 Euro

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