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Kultur: Männer am Rande der Schizophrenie

Eine Ménage à trois im derangierten Deutschland dieser Tage: Wilhelm Genazinos Roman „Die Liebesblödigkeit“

Ich ist ein Abschaffel. Der namenlose Held, der da einigermaßen unheldisch durch Wilhelm Genazinos Roman „Die Liebesblödigkeit“ geistert, ist einer wie Abschaffel – die Kunstfigur, die ihren Erfinder in den späten siebziger Jahren bekannt machte. Abschaffel war einer, der nach dem Job im Großraumbüro durch hässliche Fußgängerpassagen streunt, sich in hässlichen Schnellrestaurants stärkt und nach getanem minimalistischen Weltbeobachten zwischen Rolltreppe und Lebensmittelabteilung auf die heimische Bettcouch sinkt. Frauen kamen in Abschaffels Leben entweder als notgeile Bürokolleginnen oder als kühle Prostituierte vor – es sei denn, eine kleine Liebe kündigte sich an, weshalb „Abschaffel“ denn doch nicht ganz der Kategorie Entwicklungslosigkeitsroman zugerechnet werden konnte. Und nun dieses Ich: Abschaffel wie aus dem Gesicht geschnitten, nur ein rundes Vierteljahrhundert älter geworden.

Immerhin: Der Held der „Liebesblödigkeit“, auch er ein Flaneur oder besser: Eckensteher der lustvoll tranigen Art, hat sich selbstständig gemacht. Und pendelt im Leben, ebenso beständig wie locker, zwischen zwei Frauen. Sandra, 43, Chefsekretärin in einer Sanitärfirma, bemuttert ihn in gesundheitlichen Angelegenheiten und fordert ihn sexuell. Judith, 51, ein Jahr jünger als er selbst, lebt von Klavierstunden und ist überwiegend fürs kulturell Höherstehende zuständig. Beide Frauen kennt er seit Jahrzehnten, nur wissen sie nicht voneinander. Die titelgebende Liebesblödigkeit, schön hässliches Wort, äußert sich in der Furcht, diese Beziehungen nur mehr aus „Altersanhänglichkeit“ weiterzuführen. Und zugleich in der Abwehr gegen den seltsam wachsenden Drang, sich für eine der beiden zu entscheiden – der Ordnung oder auch nur der lebensherbstwärts nötiger werdenden Bequemlichkeit halber.

Eine Nichtgeschichte, eine von Nichtleuten auch. Doch Genazino hat zeitlebens Nichtgeschichten, vielleicht sogar die immerselbe Nichtgeschichte geschrieben und ist damit ganz langsam ganz groß geworden. Seine bedächtige, präzise, rückblendenfreie Prosa, vorangetrieben durch fast zwanghaftes inneres Monologisieren und gewisse Dialognöte mit der Welt, hat ihn vor ein paar Jahren zu schlagartiger Berühmtheit erweckt und letzten Herbst zum Büchner-Preisträger erhoben. Da thront er nun, sehr unaufgeregt – einer, der in „Abschaffel“ die Langeweile als Seelengrundierung auszuforschen begann und sie in seinem neuen Buch ausdrücklich als „große Kunst“ rühmt. Doch ein Langweiler ist dieser Genazino nicht, im Gegenteil. Mit barmherziger Genauigkeit schreibt er das Kleineleute-Weichbild der alten Bundesrepublik ins Heute fort. Wie kommt dieses Millionenbiotop Deutschland, mit vertaner Kindheit unter Adenauer und vertanen besten Jahren unter Kohl, über die Jahrtausendschwelle?

Genazino, mittlerweile 62, verortet dieses neue Land wieder in seinen (Wahl-)heimaten zwischen Frankfurt und Heidelberg – als nur sachte ins Satirische gezogene Schizophrenie. Die Figuren der „Liebesblödigkeit“, die noch vollgepumpt mit der Ideologie des Sozialstaats in die neue Verwahrlosung taumeln, bevölkern ein eigentümliches Paralleluniversum. Unser Held ist „freischaffender Apokalyptiker“: Gutbetuchten Seminarteilnehmern macht er wohlig Angst, etwa vorm „Unterhaltungsfaschismus“. Das Restpersonal des Romans – „Ich bin immer öfter darüber erstaunt, dass meine Bekannten meine Bekannten sind“ – arbeitet als Panik-Berater, Ekelreferent, Empörten-Beauftragter oder auch im Institut für Schockforschung: in kuriosen Sozialberufen, die keinen anderen Sinn haben, als den Menschen die Erkenntnis ihrer bereits stattfindenden Apokalypse zu vernebeln.

Kein Wunder (und kein Widerspruch auch), dass der Beobachter dieser chronisch kranken Gesellschaft in seine private Liebes-Schizophrenie entflieht. Erst preist er sie wie ein Allheilmittel an: „Ich kann die dauerhafte Liebe zu zwei Frauen nur empfehlen. Sie wirkt wie eine wunderbare Doppelverankerung in der Welt. (...) Die Liebe zu zwei Frauen ist weder obszön noch gemein noch besonders triebhaft oder lüstern. Sie ist im Gegenteil völlig normal.“ Dieser Genuss einer „Mindestüppigkeit, mit der wir den Kampf gegen unser armseliges Leben antreten können“ (und der immerhin auch Frauen im Verhältnis zu Männern zugestanden wird), kommt erst ins Wanken, als Sandra eine fürsorgliche Verehelichung vorschlägt – und, dramatischer noch, eine Zufallsbegegnung zwischen Sandra und Judith zu erhöhtem Erklärungsbedarf führt. Natürlich ist es erzählerisch amüsant, wenn der Apokalyptiker nun den Panik-Berater aufsucht, aber auch ein bisschen konventionell. Im zauberischen Mikrokosmos Genazinos wirkt, was anderswo als narratives Minimalerfordernis durchginge, geradezu wie eine Begebenheitsattacke.

„Die Liebesblödigkeit“ ist, anders als frühere Romane Genazinos, durchgängig im Präsens geschrieben. So leiht sich die Sprache das Unverbürgte, den rasenden Stillstand, kokettiert auch bewusst mit dem Leugnen von Erfahrung, die sich erst im Gewesenen kristallisiert. Lernt unser Held an Sandra und Judith? Entscheidet er sich? Oder hilft ihm das Voranstolpern von Gegenwart zu Gegenwart aus den Schrecken des Wählens heraus?

„Er wollte gerade anfangen, sich damit zu ängstigen, dass er eines Tages vielleicht keine Einfälle mehr zur Durchführung seines Lebens haben würde“, heißt es einmal in „Abschaffel“. Es könnte genauso gut in der „Liebesblödigkeit“ stehen. Keine Sorge: Nirgends leuchtet das ganz normal Blöde so immer wieder neu und unverwechselbar wie bei Wilhelm Genazino.

Wilhelm Genazino : Die Liebesblödigkeit. Roman. Hanser Verlag, München 2005. 203 Seiten, 17,90 €.

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