zum Hauptinhalt
Kiki de Montparnasse und Man Ray

© Carl Van Vechten, ullstein bild via Getty Images/Carl Van Vechten, ullstein bild via Getty Images

Mark Braudes Doppelbiografie „Kiki Man Ray“: Musenkuss mit Silberblick

Wie der Avantgardekünstler Man Ray und die Tänzerin Kiki de Montparnasse ein Paar wurden - und dann auf allen Tischen tanzten.

Von Thomas Groß

Als Künstlerin ist wenig von ihr geblieben. Nicht einmal eine halbe Stunde Musik, eine Handvoll Gemälde, eine kaum mehr gelesene Autobiografie – das war’s auch schon. Dass die Nachwelt dennoch ein Bild von ihr hat, liegt an einem Foto. Es stammt von ihrem Liebhaber, einem gewissen Emmanuel Radnitzky, und zeigt ihren nackten, sich in ausschwingender Kurve nach oben hin verjüngenden Rücken, mit dem Clou zweier neckisch links und rechts der Wirbelsäule platzierter F-Löcher, als wäre sie ein Musikinstrument. Frau wartet aufs Bespieltwerden, ein klarer Fall von Männerfantasie. Oder etwa nicht?

Die Frage zieht sich durch Mark Braudes Doppelbiografie eines Paars, das im Paris der 1920er Jahre für viel Aufsehen und noch mehr Gesprächsstoff sorgte. Er ein etwas grobschlächtiger Amerikaner, „halb Hafenarbeiter, halb Professor“, sie ein Mädchen aus der französischen Provinz. Er auf der Flucht vor seiner kleinbürgerlich-jüdischen Herkunft, sie vor der Aussicht, als Näherin in der nächstbesten Fabrik zu landen. Als sie begann, für ihn Modell zu stehen, war das der Auftakt zu einer Beziehung, die beider Leben umkrempelte. Aus Emmanuel Radnitzky wurde der Avantgardekünstler Man Ray, Alice Prin tanzte unter dem nom ge guerre Kiki de Montparnasse ein Jahrzehnt lang auf allen Tischen.

Braude skizziert die Hintergründe dieser erstaunlichen Parallelverwandlung: die Diskreditierung der Traditionen durch den ersten Weltkrieg, die Sehnsucht nach einem radikalen Neuanfang, den Umbruch in Künsten und Alltag. Épatez le Bourgeois! Takt und Zurückhaltung galten mit einem Mal als gestrig, jetzt ging es darum, den Augenblick mit allen sich bietenden Möglichkeiten zu feiern. Schillerndstes Exempel dafür: das pittoresk abgeranzte, links der Seine gelegenen Künstlerdorf Montparnasse, damals the place to be, doch um ein weiteres Sittengemäde aus dem Leben der Boheme geht es in diesem Buch nicht. Braude interessiert der biografische Modellfall.

Produktionsgemeinschaft statt Abhängigkeitsverhältnis

Es ist das Verhältnis zwischen Künstler und „Muse“, das hier zur Disposition steht. Wenn alle Welt aus der Rolle fällt, Kunst und Leben ineinanderfließen, warum nicht von einer Produktionsgemeinschaft statt einem Abhängigkeitsverhältnis sprechen? Der Gedanke bleibt notgedrungen spekulativ – niemand war im Atelier dabei, in dem Man Ray und die forsche Kiki Tisch und Bett teilten –, hat aber einiges für sich.

Sie entsprach so gar nicht dem Bild einer klassischen Muse, trank, rauchte, malte, schrieb, als eine jener neuen Frauen, die in den Zwanzigern die Großstädte bevölkerten, brachte sie mit ihren derben Chansons ganze Kneipensäle zum Kochen. Aber auch er war kein Malerfürst alter Schule mehr, sondern vorrangig Fotograf und als solcher auf Kooperation angewiesen.

In diesem Licht verliert auch sein/ihr bekanntestes Bild, der unter dem Titel „Le violon d’Ingres“ zum Postermotiv aufgestiegene Rückenakt, seine Eindeutigkeit. Gewiss, es ist ihr Körper, der ausgestellt wird, aber wirkt sie deswegen etwa passiv? Ist da beim Blick über die Schulter hinweg nicht sogar ein Augenzwinkern zu erahnen? War sie am Ende vielleicht die heimliche Dirigentin? Braude, bereits mit einer Napoleon-Monografie in Erscheinung getreten, deutet die Pose gegen die Konvention als ironisches Vis-a-Vis, ein gemeinsam inzeniertes Spiel mit Erwartungen und Gewohnheiten, bei dem sie die performative Rolle einnimmt, und er den Rahmen setzt. Musenkuss mit Silberblick gewissermaßen.

Zu den Stärken seiner farbenfroh erzählten, erfreulich vielschichtigen Biografiestudie gehört, dass auch die Gegenbeispiele nicht verschwiegen werden: Eifersüchteleien, Gezänk, Revierkämpfe im Hause Kiki Man Ray.

Man Rays „Violine“.
Man Rays „Violine“.

© picture-alliance / akg-images/akg-images

Der Autor bewahrt seine Protagonisten damit vor dem Schicksal, als bloße Thesenträger aufzutreten, zeigt sie stattdessen noch dort, wo sie auf Konventionen pfiffen, als Kinder einer von Widersprüchen geprägten Zeit.

Unter dem Aplomb, mit dem sie auftrat, zeigte sich oft genug eine romantische Seele, unter seiner forcierten Avantgardegestik ein handelsüblicher Macho. „Liebe, was ist das, du Dummchen? Wir lieben nicht, wir vögeln“, beschied er ihr während eines Streits. Die offenkundige Misogynie darin ist dann weniger eine Frage des Blickwinkels.

Das Buch lässt sich zugleich als Beitrag zu aktuellen Debatten lesen: Auch in den populären, nicht mehr so schönen Künsten der Gegenwart bleibt ja oft unklar, wo männliche Erwartungen bedient werden und weibliche Selbstermächtigung beginnt. „Le violon d‘Ingres“ übrigens erzielte unlängst bei Christie’s die Rekordsumme von 12,4 Millionen Dollar, der höchste Betrag, der je für eine Fotografie bezahlt wurde. Ironie des Erfolgs: Selbst wenn die rebellische Kiki vom Montparnasse Nachfahren gehabt hätte, sie wären bei dem Handel leer ausgegangen. Das Recht am Bild bleibt vorerst auf Seiten des Patriarchats.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false